Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
jetzt leistete ein Mädchen ihm und den Katzen Gesellschaft, das eigentlich wenig Bemerkenswertes an sich hatte.
Ginny war launisch, hielt ihre Gefühle aber wohlweislich in Zaum. Schließlich befand sie sich ja auch in einer heiklen Situation. Sie hielt sich für eine Achtzehnjährige. Bidewell wusste es zwar besser, hatte aber nicht das Herz, es ihr zu sagen. Am besten allen auf einmal die Wahrheit offenbaren, sobald sie sich zusammengefunden hatten. Zwangsläufig würden noch andere bei ihm eintreffen. Ihre Zeit war angebrochen, auch wenn die Räuber – trotz aller Anstrengungen der Katzen, die Mäusepopulation im Lagerhaus zu dezimieren – weiter nach ihnen suchten, um sie mundtot zu machen. Die Zeit war jetzt da. Die Zeit der Kraftprobe.
    Ginny hatte eine Abwärtsspirale durchlaufen und einen schlimmen Schock überlebt. Er sah, dass sie erst wieder zu Kräften kommen musste, und lud ihr deshalb nicht allzu viel Arbeit auf. Sie erledigte ihre Aufgaben durchaus zufriedenstellend. Öffnete die Kartons, sonderte die Sammlungen, die am wenigsten versprachen, aus und entwickelte sich zu einer scharfsichtigen Leserin, was Bidewell in Anbetracht ihrer Herkunft nicht überraschte. Irgendwann würde sie ihm vielleicht eine wertvolle Hilfe sein. Allerdings fragte er sich, ob genügend Zeit bleiben würde, Ginnys Fähigkeiten so weit zu fördern, dass sie tatsächlich Entscheidendes würde bewirken können.
    Die Arbeit im Lagerhaus ging voran, obwohl er schon in Erfahrung gebracht hatte, was er wissen musste: Die Vergangenheit reagierte wie ein Barometer auf einen gewaltigen Druckabfall. Es war nur noch sehr wenig Vergangenheit da. Und kaum noch eine Zukunft.
    Auf das, was man zu erinnern glaubte, war kaum noch Verlass. Jetzt nicht mehr.
    Die Geschichte war wirklich nur noch eine Ansammlung wirrer Texte.

10
Seattle
    Als Straßenkünstler muss man all seine Zuschauer zufriedenstellen. Auf Frauen jung, charmant und komisch wirken und eine Unterhaltung bieten, in die sie ihre Sehnsüchte für kurze Zeit hineinprojizieren können. Für Männer den leicht heruntergekommenen Clown spielen, der trotz seiner Jugend und des guten Aussehens keine Bedrohung darstellt. Bei Kindern so tun, als wäre man eines von ihnen, so dass sie sich wünschen, genauso singen, tanzen und jonglieren zu können.
    Jack hatte heute nicht schlecht verdient: rund achtundzwanzig Dollar in drei Stunden. Ein paar Leute aus dem Publikum, das sich immer wieder ansammelte, hatten das Geld in den Schlapphut geworfen, den er auf dem Gehsteig vor der Tiffany’s-Filiale der Innenstadt aufgestellt hatte.
    Wie schon seit zwei Jahren arbeitete Jack auch heute mit lebenden Ratten. Sie waren an seine Kunststücke gewöhnt, und er hatte sie noch nie fallen gelassen. Es mochte den Ratten nicht besonders gefallen, durch die Luft zu wirbeln, Schwänze und Köpfe zu verdrehen, während ihre schwarzen oder rosa Knopfaugen funkelten, und in schneller Folge abwechselnd Himmel, Erde und Jacks Hand zu erblicken, doch es klappte. Er fing sie vorsichtig auf und warf sie ebenso vorsichtig in die Luft. Und danach gab er ihnen ihr Futter. Außerdem war durch
den Maschendraht stets etwas Interessantes zu sehen, wenn sie nach den Vorstellungen im Käfig hockten und ihr Fell putzten. Ratten hatten schon schlechter gelebt.
    Als die Menschenmassen die Betonschluchten um vier Uhr nachmittags schlagartig verließen, um nach Hause zu gehen, packe Jack seinen Krempel zusammen, befestigte alles vorne und hinten an seinem Fahrrad und machte sich auf die lange Fahrt aus der Innenstadt heraus, den Denny Way entlang bis nach Capitol Hill.
    Zwar hatte er sich dazu durchgerungen, die Freie Klinik am Broadway aufzusuchen, doch wegen seiner inneren Widerstände hielt er zunächst an Ellens Haus an. Ihr kleiner grauer Bungalow lag versteckt hinter einem schmalen Garten, oberhalb einer ein Meter hohen Böschung, von der Betonstufen zum Haus hinaufführten. Helen war außerhalb der Stadt unterwegs und von ihrem Tagesausflug noch nicht zurück, deshalb holte er sich den Schlüssel, den sie für ihn hinterlegt hatte. Den Käfig mit den Ratten brachte er in den Dachsparren der engen alten Garage unter, wo herumstreunende Katzen nicht an sie herankommen würden.
    Jack konnte sehr attraktiv wirken, aber hatte sich Ellen gegenüber in dieser Hinsicht zurückgehalten, denn er wusste nicht recht, was sie eigentlich von ihm wollte. Sie verhielt sich weder mütterlich noch so, als wäre sie scharf auf ihn –

Weitere Kostenlose Bücher