Die Stadt am Ende der Zeit
ging, Bus fuhr oder vor dem Einschlafen war, verlor sie oft kurz
das Zeitgefühl und konnte sich später an nichts erinnern. Nach diesen Aussetzern war ihr manchmal leichter ums Herz, und es kam ihr so vor, als wäre die Liebe in ihr Leben zurückgekehrt – ein Gefühl, das sie in ihrer sprunghaften Jugend nicht oft empfand. Doch manchmal blieb solche Angst oder ein so starkes Gefühl von Verlust zurück, dass es ihr fast die Luft abschnürte, begleitet von einem Gestank, der schlimmer als Verbranntes roch, und einem moderigen, bitteren Geschmack, der übler war, als hätte sie etwas Verdorbenes gegessen.
Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie sich durch eigene Willenskraft in verschiedene Situationen hineinversetzen konnte, auch wenn das oft ins Auge zu gehen schien. Seitdem sie ihre Familie verloren hatte, war Ginny eine Meisterin darin, falsche Schritte zu tun, als wäre sie wild entschlossen, bei jeder Weggabelung die verkehrte Richtung einzuschlagen.
Da sie selbst nicht genau wusste, wie und warum sie das alles anstellte, las sie seit geraumer Zeit Bücher über Parallelwelten und fand sie faszinierend, aber auch unbefriedigend. Auch weiterhin versetzte sie sich in andere Situationen, hatte aber immer noch keine Erklärung dafür, warum und wie sie das schaffte.
Bis Bidewell sie bei sich aufnahm, hatte sie keinem Menschen von ihren Fähigkeiten erzählt. Erst in der vergangenen Woche hatte der Alte, nachdem er ihre Geschichte gehört hatte, sich so geöffnet, dass er endlich einmal eine Meinung geäußert hatte. »Klingt ganz nach jemandem, der sich im Chaos verloren hat und davon unterjocht wird. Was es auch sein mag, man kann es nicht in Erfahrung bringen, kann es nicht wissen.« Mit zwei seiner dünnen Finger hatte er die Lippen zusammengequetscht und mehrmals wiederholt, er könne nur Mutmaßungen anstellen, schließlich sei er kein Experte in diesen Dingen.
Dieser Mann konnte einen wirklich zur Verzweiflung bringen.
»Was wissen Sie denn überhaupt, Mr. Bidewell?«, platzte es jetzt aus Ginny heraus. Sie klappte das schwere Buch so heftig zu, dass der Knall von der Zimmerdecke widerhallte.
»Nenn mich bitte Conan«, bat er. »Mein Vater wurde Mr. Bidewell genannt.«
»Und wie alt war er , als Sie geboren wurden?«
»Zweihunderteinundfünfzig Jahre.«
»Und wie alt sind Sie jetzt?«
»Eintausendzweihundertdreiundfünfzig.«
»Jahre?«
»Selbstverständlich.«
»Das ist unmöglich.«
»Nein, nur recht außergewöhnlich«, korrigierte Bidewell, schob seine kleine Brille hoch und hielt sich den Einband eines anderen Buchs dicht vor die blassblauen Augen. »Viele Dinge sind vorstellbar, allerdings unmöglich. Viele weitere Dinge sind zwar vorstellbar, aber nicht sonderlich wahrscheinlich. Einige wenige sind tatsächlich unvorstellbar, jedenfalls für uns, und dennoch möglich.« Er summte vor sich hin. »Wenn man Bücherstapel von A nach B bewegt, kann man wirklich Wunder bewirken. Sieh mal, liebe Ginny, was wir hier haben: den zwölften Band der Gesamtausgabe von David Copperfield. Ich meine den Protagonisten in dem Roman von Dickens, verstehst du? In Wirklichkeit war er ein Schriftsteller. Nicht zu verwechseln mit dem Magier, obwohl es sicher interessant wäre, ihm irgendwann einmal zu begegnen. Ich frage mich, was er wohl träumen mag. Ist eine Frage von Wahlmöglichkeiten … Falls du Zeit hast, meine Liebe, könntest du dann wohl nach einem
kleinen Fehler auf Seite 432 suchen? Das hier ist sehr klein gedruckt, und meine Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren.« Er hielt ihr das Buch hin.
Ginny stand auf und nahm es aus Bidewells ausgestreckter knotiger Hand. Sie hatte diesen Unsinn, der sie ständig vor neue Rätsel stellte, allmählich satt. Wie konnten Romanfiguren ein Buch schreiben oder sogar ein Werk mit zwölf oder mehr Bänden verfassen? Allerdings fühlte sie sich hier geborgen und in Sicherheit. Der Widerspruch machte ihr zu schaffen.
Sie wusste noch, wie Bidewell bei ihrer Ankunft leicht ihre Finger umschlossen und sie im Lagerhaus willkommen geheißen hatte. Seine Geste hatte bei ihr ein Erschauern und zugleich ein seltsames Wohlgefühl ausgelöst.
»Welche Art Fehler ist es denn?«
»Eigentlich kann es alles Mögliche sein – ein Tippfehler, ein Rechtschreibfehler, eine Lücke im Text oder etwas, das dort nicht hingehört. Wir müssen uns den Fehler notieren, dürfen jedoch keine Korrektur vornehmen oder versuchen, die offensichtlichen Mängel zu kaschieren. Sie
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