Die Stadt am Ende der Zeit
nur leere Worte und irgendwelche Namen. Und selbst wenn du den Geschichten glaubst: Nie ist jemand von denen, die so weit vorgestoßen sind, zurückgekehrt, um uns davon zu berichten. Und das besagt wohl einiges.«
»Wie bitte? Vorausgesetzt, wir hintergehen die Pflegerinnen und sie stecken es den Beamten: Werden dann alle Entflohenen, sofern man sie wieder einfängt, dem Düsteren Aufseher ausgeliefert? Oder sperrt man sie zur Unterhaltung der Hochgewachsenen in Käfige? Willst du das damit andeuten?«
»Das klingt selbst für die Hochgewachsenen ziemlich brutal«, erwiderte Khren.
»Ich hasse es, so wenig zu wissen! Ich will die Dinge, neue Dinge, mit eigenen Augen sehen. Ich hasse es, ständig umsorgt und beaufsichtigt zu werden!«
Jebrassys Wutausbruch bereinigte die Atmosphäre ein wenig. Khren nahm wieder die gewohnte Rolle an: die des Resonanzbodens für Jebrassys Soli. In Wirklichkeit fand Khren Jebrassys Pläne höchst interessant und sah dabei fasziniert und mit lediglich gespieltem Entsetzen zu. Es war so, als hätte er diese Pläne auch selbst schon durchgespielt und dabei einen toten Punkt erreicht – eine Mauer, die ihm die weitere Sicht versperrte und es ihm unmöglich machte, für sich eine Entscheidung zu treffen. Manchmal schien Khren Jebrassy nicht abzunehmen, dass dessen Vorhaben mehr darstellte als interessantes, aber hohles Geschwätz. Denn nur das war es für Khren.
»Was hat dein Besucher dir denn letztes Mal gesteckt?«, fragte Khren und genoss den letzten Schluck Tork. Jebrassy hatte bei den ersten beiden Runden mit seinem Freund mitgehalten, verzichtete jedoch auf einen dritten Becher, weil er sich für den kommenden Tag einen klaren Kopf bewahren wollte. Für das Treffen, das bestimmt nicht stattfinden würde.
»Er ist ein Idiot«, murmelte Jebrassy. »Hilflos. Hat überhaupt keine Ahnung.« Er rülpste, um der herabsetzenden Bemerkung Nachdruck zu verleihen. Bei den Nachgezüchteten der alten Art existierten keine Vorstellungen über Geisteskrankheiten. Mit Verschrobenheiten, Launen und außergewöhnlichen Charakteren kannten sie sich aus, doch ein Begriff wie »Wahnsinn« war unbekannt. Deshalb beschuldigte auch niemand den anderen, die Verbindung zur Realität verloren zu haben, es sei denn, mit einer vagen Andeutung oder einem Witz, der einem selbst als peinlich aufstieß, was man durch ein Rülpsen unterstrich.
»Und, was weiter? Hat er dir irgendwas Neues erzählt?«
»Ich war ja nicht dabei. Wenn er kommt, gehe ich, das weißt du doch.«
»Und die Zeichnungen auf dem Schütteltuch?«
»Ergeben nie einen Sinn.«
»Vielleicht ist dein Besucher ihrem Besucher begegnet, und sie weiß deshalb so viel über dich.«
»Du hast doch selbst mit ihm gesprochen und kennst ihn besser als ich.« Jebrassy ließ sich tiefer in die Kissen sinken.
»Du – er – konnte ja kaum was herausbringen«, sagte Khren. »Er hat nur in meinen Spiegel gesehen und irgendwelche Geräusche gemacht. Sagte so was wie: Die haben alles falsch verstanden!, bloß lallte er dabei. Und dann stolperte er – du oder
dein Besucher – einfach vorwärts, nahm genau dort Platz, wo du jetzt sitzt, schloss seine oder deine Augen und war gleich wieder weg.« Khren wackelte mit dem Zeigefinger. »Wenn beim Herumgeistern nur so was herauskommt, überlasse ich es gern dir, Kumpel.«
ZEHN NULLEN
9
Seattle, südliche Innenstadt
Um sich die schier endlose, trostlose Zeit zu vertreiben – der Regen klatschte gegen das Oberlicht des hohen dunklen Raums –, blätterte Virginia Carol, von ihren Freunden Ginny genannt, in einem dicken, schweren Band mit dem Titel Die Wasserspeier von Oxford . Der Verfasser war ein Professor J. G. Goyle, das Erscheinungsjahr 1934. Wie mochte der zweite Vorname Mr. Goyles lauten? Garth oder einfach nur Gar?
Die Reste eines halb verzehrten Butterbrots, immer noch in Wachspapier eingewickelt, warteten auf einem leeren Messingtisch, der neben einem Lesesessel mit hoher Lehne stand. Schon seit zwei Wochen versteckte Ginny sich in dem grünen Lagerhaus und hoffte auf eine Erklärung, die offenbar nie gegeben werden sollte. Ihre Angst hatte sich gelegt, doch jetzt begann sie sich zu langweilen, was sie vor zwei Wochen nicht für möglich gehalten hätte.
Wenigstens waren die Abbildungen in dem Buch amüsant: Sie zeigten anzüglich blickende, widernatürliche Gestalten, die, so behaupteten die Gelehrten, böse Geister fernhalten sollten. Doch das, was ihren Blick wirklich fesselte, war ein
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