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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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na ja, jedenfalls nicht ganz so. Es gefiel ihm, von ihr beachtet zu werden, weil es ihm das Gefühl gab, irgendwo verankert zu sein. Vielleicht würde sie sich im Unterschied zu allen anderen noch wochenlang an ihn erinnern. Dennoch veränderte er kleine Dinge in ihrem Wohnzimmer, um sich ihr ins Gedächtnis zu rufen.
    Es war Ellen gewesen, die ihm die Freie Klinik empfohlen hatte. »Selbst Gaukler brauchen ärztliche Kontrolluntersuchungen«, hatte sie gesagt.
    Er dachte über das Abendessen in der letzten Woche nach. Ellen hatte den Tisch mit feinem Silber, Kristall und altem Porzellan eingedeckt und ihm Lachs mit glasierten Beeren, Reis und Fenchel in Butter serviert. Wenn sie glaubte, er merke es nicht, hatte sie ihn mit einem sonderbaren Blick gemustert, der Sehnsucht und zugleich Vorsicht ausdrückte. Er hatte versucht, sich ihrer Zuneigung als würdig zu erweisen, ohne allzu viel von sich preiszugeben.
    Ellen war keine Jägerin – keine Spionin. Doch Wachsamkeit war das A und O, insbesondere dann, wenn er sich in Sicherheit wiegte.
    Wie sie ihn gebeten hatte, holte er ihre Post herein, sortierte den Wertstoff aus den Abfällen heraus und brachte den Müll nach draußen, sah nach, ob ihre Schattenblumen und ein Zitronenbaum, der drinnen bei dem großen vorderen Erkerfenster stand, noch genügend Wasser hatten.
    Jack trödelte noch einige Minuten herum und blickte durchs Fenster auf die Straße. Dabei fiel ihm der Abstand zwischen den Straßenlampen auf. Er fragte sich, welche Aussicht man von hier aus wohl um Mitternacht, in nahezu völliger Dunkelheit, haben würde. Oder, noch besser, am frühen Morgen, wenn alle Lichter aus waren und sich mit leichtem Schimmern die Morgendämmerung ankündigte. Er konnte es fast vor sich sehen, doch das Bild verschwamm gleich darauf vor seinen Augen. Etwas anderes hatte sich jetzt darübergelegt, das unmöglich da sein konnte und auf keinen Fall da sein sollte.
    Die Häuser auf der anderen Straßenseite schienen aus Glas zu bestehen, und durch sie hindurch konnte er eine Ebene oder Wüste erkennen, schwarz wie Obsidian. Sie war mit riesigen, nur vage auszumachenden Objekten übersät, die irgendwie lebendig schienen und erbarmungslosen Hass und Neid ausstrahlten.
    Seufzend schloss er die Augen und schüttelte den Kopf, bis das Nachmittagslicht zurückkehrte. Danach zog er hastig die Vorhänge zu.
     
    Das Wartezimmer der Klinik war voll. Sieben Mütter und deren kranke Kinder drängten sich hier bereits, als Jack eintrat. Jack mochte Kinder, aber wenn es ihnen nicht gut ging oder sie sich in sonstigen Notlagen befanden, kam er sich unbeholfen vor und fühlte sich überfordert. Mit abgewandtem Blick hörte er zu, wie sie husteten und schnaubten, weinten und sich um Spielzeug stritten.
    Nervös trommelte er auf die hölzerne Stuhllehne, schlug den Takt des schwungvollen Lieds, das er oft leise vor sich hin summte, wenn er jonglierte. Bei ihm klang das eher wie eine Folge melodischer Grunzlaute.
    Ein älterer Mann stand auf, als sein Name aufgerufen wurde, und legte eine Seattle Weekly auf den mittleren Tisch. Jack griff nach dem Blatt, überschlug die Film- und Fernsehrezensionen, die ihn kaum interessierten, da er nicht gern fernsah oder ins Kino ging, und blieb an den Artikeln über Szene-Clubs und Live-Konzerte hängen, denn er hielt stets nach guter neuer Musik Ausschau. Gerade hatte er eine Kritik, die sich mit einer neuen Fusion-Ska-Grace-Band befasste, halb durchgelesen, da begannen die Wörter auf der Seite sich nach links zu neigen. In
seinem Kopf drehte sich alles. Irgendetwas schien vor seinen Augen zu schweben, ein Schwarm großer Flügelinsekten, der in blendendes Licht getaucht war. Gleich darauf verschwammen die Insekten vor seinen Augen, flogen davon und legten sich wie Flecken auf die Gemälde im Wartezimmer, die hinter den Stühlen und der Spielecke für kleine Kinder die Wände zierten.
    Die Blasen des vor sich hin sprudelnden kleinen Aquariums neben dem Empfang erstarrten, und ringsum wurde es totenstill.
    Zwar konnte Jack noch sehen, aber was er sah, war verzerrt, drehte sich mal hierhin, mal dorthin, rotierte um ein Zentrum, das sich ständig weiter ausdehnte und dabei die Farbe wechselte: Auf Rot folgte Blau und darauf Schattierungen von Braun und Rosa.
    Gleich darauf blickte er direkt in zwei große Augen, die ihn mit einem Ausdruck anstarrten, den er nicht zu deuten wusste. Er wurde nicht schlau aus diesem Gesicht, das allzu viele Konturen zu haben

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