Die Stadt am Ende der Zeit
merken, dass etwas nicht stimmte, und Techniker vorbeischicken, vielleicht auch die Polizei. Zweimal hatte Daniel aus seiner Ecke flüchten müssen, weil er die Ampel zu lange auf Rot gelassen und allzu offensichtlich mit all diesen kleinen Schicksalsfäden gespielt und ihr Leben durcheinandergebracht hatte.
»Hier, Zerberus.« Der Fahrer hielt ihm vier verkrumpelte Dollarscheine hin. »Stellen Sie mir bloß keine Fragen, und fressen Sie mich nicht auf!«
Daniel versteckte die Scheine in der tiefsten Manteltasche. Ihre Blicke begegneten sich. Die Augen des Fahrers lagen tief in den Höhlen und sahen ihn ebenso traurig wie direkt an, während Daniel ihn aus weit geöffneten, ausgewaschenen Augen fixierte. Dabei sprang ein kleiner Funke über und fuhr Daniel ins Rückenmark.
»Hab schlimme Träume«, vertraute der Fahrer ihm an. »Und Sie?«
Daniel nickte. Gleich darauf schwang er den Arm herum, und die Ampel schaltete auf Grün.
Ankündigungen der Flut.
Er spürte, dass diese vernichtende Flut bereits an den unberührten Stränden dieser Welt leckte. Das erste Anzeichen dafür
waren Flüchtlinge wie er selbst, verkrüppelte Sturmvögel, die sich, verzweifelt und nach Atem ringend, mit gebrochenen Flügeln ans Ufer schleppten.
Und als Nächstes …
… kamen schlimme Träume.
Er hatte verschiedene Möglichkeiten abzuschätzen, wie viel Zeit ihm noch blieb, konnte die restlichen Tage, Wochen und Monate kalkulieren. Inzwischen war er ein Meister darin, Sturmfluten vorherzusagen.
Daniel klappte sein Pappschild zusammen und winkte über die Kreuzung hinweg Florinda zu. »Ich mach für heute Schluss«, rief er.
»Warum denn jetzt schon?«, fragte sie. »Bald machen doch viele Uni-Leute Mittagspause.«
»Willst du meinen Platz übernehmen?« Daniels Standort war bestens, denn er lag links von der Ausfahrt der Schnellstraße, an der Fahrerseite.
»Nicht, wenn du später wieder da bist und mir ins Gehege kommst.«
»Ich mach den Rest des Tages frei. Bin erst morgen früh wieder da. Aber überlass den Platz nicht irgendeinem Mistkerl, nur weil du rauchen musst.«
»Werd die Stellung schon halten«, erwiderte Florinda mit einem verblüffend gesunden Grinsen: Sie hatte noch alle Zähne.
Daniel fehlte sein früher so gutes Gebiss.
Er wickelte sein Schild in eine Mülltüte aus Plastik und versteckte sie im Gebüsch. Danach ging er die Fünfundvierzigste Straße hoch, vorbei an asiatischen Restaurants, Videoläden und Spielsalons. Vor einem Buchantiquariat blieb er stehen, aber dort wurden nur Bestseller in Taschenbuchausgaben verkauft.
Am Stone Way bog er links ab, kam an Mietshäusern und einem schicken Lebensmittelmarkt vorbei, danach an weiteren Gebäuden mit Miets- und Eigentumswohnungen, einem Geschäft für Installationszubehör und einem Eisenwarenladen. Gleich darauf stieg er den sanft abfallenden Abhang zum Lake Union hinunter.
Daniel hatte seine Suche vor drei Tagen begonnen, indem er einen Bus zur Bibliothek in der Innenstadt nahm – nicht zur alten Bücherei, die er kannte, sondern zu einem riesigen, rautenförmigen Bau aus glänzendem Stahl, der ihm unheimlich war. Die Unterschiede waren beängstigend und zugleich beruhigend. Denn daran merkte er, dass er einen sehr langen Weg hinter sich gebracht hatte, und das war gut, aber auch traurig, weil er so vieles zurückgelassen hatte.
Die Bibliothek in der Innenstadt führte das gesuchte Buch nicht und konnte auch kein Exemplar in der Fernleihe ausfindig machen.
Trotz der enormen Verschleißerscheinungen hatte Charles Grangers Körper aufgrund des geringeren Alkoholkonsums und der besseren Ernährung wieder etwas Kraft bekommen. Obwohl ihm die Gelenke wehtaten, das Herz heftig schlug und die Hände zitterten, brauchte Daniel nicht einmal fünfunddreißig Minuten bis zum Seattle Book Center.
Anderthalb Straßenzüge vom Schifffahrtskanal entfernt, auf der östlichen Seite der breiten Straße, teilten sich drei Buchhandlungen einen graubraunen Flachbau. Auch in Daniels früherer Welt hatten sich hier Buchhandlungen befunden – eine Übereinstimmung, über die er in Anbetracht viel größerer Veränderungen, die ihm aufgefallen waren, nicht eingehender nachdachte.
Während er an der Ladenfront auf und ab ging, warf er immer wieder Blicke durch die bis zu halber Höhe versilberten Schaufenster. In unregelmäßigen Reihen standen dort Kunstbücher, deren Rücken nach innen wiesen, so dass man die Titel von der Straße aus nicht lesen konnte.
Als er
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