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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Wendeltreppe, bis seine Gelenke hervortraten und er merkte, wie er sich Quetschungen zuzog. Er atmete rasselnd und stoßweise und fühlte sich so, als wäre er tot, könnte aber noch sehen und hören … Spürte, wie sein Körper schlapp machte.
    »Ich bin hier oben!«, rief Tiadba. »Beeil dich. Ist zwar eng hier, aber der Platz reicht für uns beide, wenn wir uns zusammenquetschen. «
    Während er mit den Augen das Licht suchte, biss Jebrassy die Zähne zusammen und kroch schneller. Bald darauf robbte er durch einen kurzen horizontalen Gang und gelangte durch eine Luke in einen offenen Vorbau, die halbrunde Loge der Valeria.
    »Pass auf, hier ist nicht viel Platz«, warnte ihn Tiadba.
    Er stand auf, streifte Tiadba dabei und spähte über den Rand vorsichtig nach unten, auf die von Schutt übersäte, staubige Bühne Hunderte von Metern unter ihnen. Im Geröll konnte er den zusammengekrümmten Leichnam erkennen. Als er ebenso vorsichtig wieder aufsah – er hatte Angst, ihm könne so schwindlig werden, dass er womöglich rückwärts in den Abgrund stürzte –, fiel sein Blick auf den letzten Schimmer des Tageslichts, das vom künstlichen Himmel hereindrang.
Von dieser Höhe aus wirkte der Himmel noch künstlicher als sonst.
    Wir haben unser ganzes bisheriges Leben in einem Bühnenbild verbracht, dachte er. Zur Unterhaltung eines grausamen, gefühllosen Publikums.
    Tief Luft holend, quetschte er sich neben Tiadba und blickte auf den Kontrollsitz und die Konsole. Über dem Pult war ein kaum zwei Hand breiter flacher Bildschirm in die Wand eingelassen. Darunter befand sich eine Fläche mit Dutzenden verschiedenfarbiger kleiner Knöpfe. Über dem Bildschirm funkelten sechs gläserne Linsen wie Insektenaugen.
    Der einzige Stuhl vor dem Steuerpult bot nur Platz für jemanden, der halb so groß war wie er. Tiadba riskierte den Absturz, als sie sich mit dem Hintern auf den Rand der offenen Loge hockte. Beide starrten mit ernsten Gesichtern auf den kleinen grauen Bildschirm, der nichts anzeigte.
    »Der hier funktioniert auch nicht mehr richtig«, bemerkte sie. »Ich musste ein paarmal herkommen, bis ich mit diesen schwarzen Dingern was anfangen konnte. Setz dich neben mich, dann rufe ich ein Verzeichnis auf. Bisher hab ich mir nur ein oder zwei Einträge angesehen. Mehr wollte ich mir allein nicht anschauen, denn ich weiß nicht, ob diese alten Erinnerungen, diese Aufzeichnungen noch lange halten. Es ist viel besser, wenn man sich das zu zweit anguckt und einprägt.«
    Aufmerksam blickte Jebrassy auf die glänzenden schwarzen Knöpfe. »Ich schau ja hin«, sagte er und hockte sich halb neben Tiadba. »Aber ich …«
    Sie streckte die Hand hoch und rückte seinen Kopf in einen besseren Blickwinkel. Als ihn grelle Bilder überfluteten, zuckte er zusammen. Ringsum konnte er nichts mehr erkennen, denn
die Szenen hatten eine unmittelbare Sogwirkung und flogen so schnell an ihm vorbei, dass er nicht schlau daraus wurde. Von der Intensität der Bilderflut wurde ihm übel. »Muss gleich kotzen«, warnte er sie.
    »Du wirst dich daran gewöhnen, außerdem lohnt es sich, selbst wenn man Kopfweh davon bekommt. Ich probier immer noch den besten Blickwinkel aus. Falls dir einfällt, welche Funktionen all diese Noppen und Knöpfe haben könnten, sag’s mir.«
    »Was ist, wenn wir die Aufzeichnungen aus Versehen löschen? «
    Tiadba zuckte die Achseln. »Ich glaube kaum, dass sie jemandem hier oben so viel Macht zugestanden haben.«
    Plötzlich war Jebrassy fasziniert. Stets hatte bei dem Gedanken, die Kalpa zu verlassen, sein Wissensdrang die entscheidende Rolle gespielt: Er wollte erfahren, wer und was er war und wo er vielleicht seinen Platz im Leben finden konnte. Niemand hatte ihm das bis jetzt sagen können; doch schon seit seiner Kindheit war er davon überzeugt, dass an diesen uralten Orten, im tiefen Gemäuer – selbst in solchen Vortäuschungen wie dem künstlichen Himmel und den angeblichen »Bücher«-Regalen hoch oben in den Gesteinsblöcken – Anhaltspunkte verborgen sein mussten.
    Mehr als Anhaltspunkte.
    Die ganze Geschichte, lückenlos und stimmig.
    Die Rechtfertigung für alles, was er tat.
    »Das hier scheint die Bilderfolge zu verlangsamen«, murmelte er, während er mit dem Finger eine Noppe berührte. Er stellte fest, dass er mit ein bisschen Übung die Noppe nach rechts oder links verschieben konnte. Doch gleich darauf merkte
er, dass nicht sein Finger die Geschwindigkeit veränderte, sondern dass es an dem

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