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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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hängt, weder im Kiefer verankert ist noch herausfallen will, war sie mit Tiadba verbunden und deren Emotionen ausgesetzt. Allerdings war ihr klar, dass Tiadba nur oberflächlich bewusst war, dass etwas anders war als sonst. Dafür sorgten schon die »Haushüter« ihrer Wirtin, die sich um deren alltägliche Bedürfnisse kümmerten und Ginny jetzt dringend rieten, sich zurückzuziehen.
    Ginny wusste auch, dass diese über Tiadba wachenden »Haushüter« die kurze oberflächliche Irritation, die sie durch ihre Anwesenheit ausgelöst hatte, beiseitefegen würden, sobald sie verschwunden war. Denn genau das taten auch Ginnys »Haushüter« im umgekehrten Fall, wenn sie als Wirtin fungierte. Wie seltsam, dass sie so etwas wusste!
    Könnte sie all das doch im Gedächtnis bewahren, all diese Erfahrungen in den Wachzustand mitnehmen, um sie zu überdenken und mit den anderen Mosaiksteinchen zusammenzufügen!
Vielleicht würde sie sich dann ein vollständiges Bild machen können.
    Bislang passte so wenig zusammen.
    Die bunten Anzüge in neun Farbschattierungen, darunter mattes Rot, zartes Gelb und ätherisches Grün, fesselten Tiadbas Aufmerksamkeit so, dass sie offenbar kaum noch Augen für etwas anderes hatte. Im Ausgangslager hatte man ihr von diesen Wunderwerken erzählt, allerdings erst vor kurzer Zeit, unmittelbar vor dem Marsch durch die Staubwüste im grauen Hohlraum. Diese Anzüge zählten zu der Ausrüstung, die ihr Leben im Chaos, jenseits der Grenze des Realen, schützen würde … Niemand der alten Art in den Ebenen hatte jemals Bekanntschaft mit solchen Dingen gemacht. Wie schön, dass es so etwas gab; und wie bestürzend zu hören, wozu so etwas nötig war!
    Tiadba war längst klar, dass ihre Pläne und Hoffnungen auf ein Abenteuer mehr als naiv gewesen waren. Das Chaos bedeutete nicht Zuflucht oder Freiheit, sondern ständige Gefahr. Offenbar wollten selbst die Hochgewachsenen nicht darüber reden, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
    Was sie vor ihrer Ankunft im Hochwasserkanal durchlitten hatten – Kummer und Trauer, gepaart mit dem Schock darüber, dass man der Gruppe das Heft aus der Hand genommen hatte –, war nur ein Vorgeschmack dessen gewesen, was jenseits der Kalpa auf sie wartete.
    Ja, sie waren jetzt tatsächlich zu einem Marsch aufgebrochen – aber mit welchem Risiko und zu welchem Preis? Wem konnte man nach all dem, was man ihnen vorenthalten und nie erklärt hatte, überhaupt noch vertrauen?
    Verschwinde jetzt! Ich muss mich konzentrieren …
    Das Letzte, an das Ginny sich wie an ein glitschiges Seil klammerte, ehe die »Haushüter« sie vertrieben und die Verbindung gewaltsam kappten …
    … war Tiadbas Hoffnung: Wir werden uns wiedersehen, das weißt du doch, oder?
    Die Zeit trat aus den Fugen. Alles verzerrte sich, geriet durcheinander, schob sich ineinander: Traum und Leben.
    Wo ist er? Ist er noch am Leben? Du weißt es! Sag’s mir!
    Doch Ginny wusste es nicht.
    Warum haben wir nichts von ihm gehört?
     
    Ginny fiel aus dem Bett und schlug in einem Gewirr aus Decken und Laken auf dem Boden auf. Ihr Nachthemd war schweißnass. Verzweifelt versuchte sie festzuhalten, was sie gesehen und gehört hatte, aber in der Hitze des Erwachens zerrann die Vision wie ein Eisstückchen. Vor Anspannung und Frust schrie sie leise auf.
    Minimus kam angesprungen, rieb sich an ihren Füßen, setzte sich auf und sah zu, wie sie das Bettzeug entwirrte und wieder auf dem Bett verfrachtete.
    Was sie auch gesehen haben und wo sie auch gewesen sein mochte: Möglich, dass es sich in der logischen Abfolge (falls es eine gab) vorher ereignet hatte. Vor was ? Vor diesen Sprüngen, die bei ihr ein so entsetzliches Gefühl von Beklemmung und Angst hinterlassen hatten.
    Angst vor den schlimmen Zeiten, die bald hereinbrechen und endlos lange währen würden.

22
Seattle, Universitätsbezirk
    Wovon träumen diese Menschen gerade? Und wie lange wird es noch dauern, bis sie überhaupt keinen Schlaf mehr finden werden?
    Aufmerksam beobachtete Daniel die morgendlichen Pendler in ihren Wagen – sofern er sie sehen konnte. In dieser Welt verbargen sich so viele Menschen hinter getönten Scheiben. Als wären sie menschenscheu oder hätten Angst. Die Gesichter waren stur nach vorn gerichtet, während die Augen hin und her huschten und seinem Blick auswichen. Manche lasen sein Schild und lächelten oder winkten, andere brüllten irgendeine Beleidigung. Alles gute Menschen, kluge Menschen, aber sie hielten nicht an, um ihm

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