Die Stadt am Ende der Zeit
Blick lag, mit dem er die vorbeiziehenden Szenen betrachtete. Die Konzentration, der Fokus, das Flattern eines Lids, das Zucken eines Gesichtsmuskels, die Anzeichen dafür, dass er seine Aufmerksamkeit mal diesem, mal jenem Ausschnitt zuwandte, beeinflussten den Ablauf. Besser als mit den Fingern konnte er die Bilderfolge durch seine Mimik steuern.
Die Bilderflut ebbte nach und nach ab. Jeder Teil dieser Flut barg neue Bilder, die sich inzwischen aber mit relativ normaler Geschwindigkeit bewegten – dreidimensionale Darstellungen, die irgendwie alle gleichzeitig sichtbar waren, eine ließ die andere durchscheinen. Sichtbar, dicht und real.
»Gewöhnst du dich allmählich daran?«, fragte Tiadba und drückte ihre Schulter gegen seine.
»Nein«, erwiderte er, obwohl er jetzt besser damit zurechtkam. »Wie wählt man die Szenen aus?«
Geduldig erklärte sie ihm, was sie wusste. In Verbindung mit Tiadbas Stimme entstand der Eindruck, in einer anderen Realität zu schweben. Nach einer Weile merkte Jebrassy, dass Tiadbas hypnotische Stimme ihn genauso faszinierte wie die Panoramen, die sich ihnen erschlossen – zumal diese eigentlich nur wie Bestandsaufnahmen der Orte innerhalb der Ebenen aussahen, die ihnen großenteils vertraut waren.
In keiner der Szenen kamen Einwohner vor. Sie zeigten nur menschenleere, verlassene Räume, und das wirkte so unheimlich, als spähe man in eine Totenstadt – oder in die Diurne.
»Die Person, die das hier gesteuert hat, war kleiner als wir«, erklärte Tiadba und setzte flüsternd nach: »Aber man hat von ihr nicht mehr Intelligenz verlangt, als wir beide besitzen. Und
sie war auch körperlich nicht viel anders als wir. Sie müssen Leute wie wir gewesen sein, nur durften sie sich diese Dinge ansehen und etwas davon erfahren, was mit ihnen geschah. Uns ist das nicht mehr erlaubt. Was mag der Grund sein?«
»Aber da passiert ja gar nichts«, widersprach er. »In den Szenen kommen keine Leute vor.«
»Hab Geduld. Das ist nur eine Dimension unserer Suche.«
Er zog sich von den Linsen zurück, um Tiadba zu taxieren. Das brachte sie zwar nicht in Verlegenheit, nervte sie jedoch, deshalb packte sie ihn an seinem kurzen Ohr und drehte seinen Kopf sanft wieder zur Linse.
»Da, jetzt sind wir wieder in den Diurnen. Schau hin.« Nachdem sie einige Einstellungskorrekturen vorgenommen hatte, wurden die Bilder und Orte plötzlich lebendig. Am äußersten Ende der Ebenen – an den Brücken und am Dammweg – waren Tausende von festlich gekleideten Menschen zu sehen. Sie waren viel farbenprächtiger angezogen als die Nachgezüchteten der alten Art, deren Kleidung eher düster war.
Wer oder was auch immer diese Bilder eingefangen haben mochte: Offenbar hatte er, sie oder es die Möglichkeit gehabt, überall gleichzeitig zu sein.
»Die sind alle wohlhabend «, bemerkte er.
»Geh näher ran. Schau mal auf ihre Gesichter.«
Gemeinsam machten sie einen flachen Schwenk über die Menschenmenge und wählten sich mehrere Personen für Nahaufnahmen aus. Eindeutig gehörten sie nicht zur alten Art. Sie waren nicht nur kleiner, sondern auch schlanker und zierlicher, hatten längere Nasen und stärker ausgeprägte Gesichtszüge, besonders im Bereich von Kinn und Ohren. Die Ohren waren recht groß und wie kleine Flügel geformt. Die Haut war
bleich, fast wächsern und wirkte dennoch vital. Die Menge bewegte sich wie in einer einstudierten Choreografie, ganz anders, als er es von seinen Zeitgenossen kannte. (Bei ihnen kam es bei Ansammlungen ständig zu Gerangel; man rempelte andere an, stieß zusammen, verteilte mit den Ellbogen Rippenstöße und hüpfte auf und nieder.)
»Was glaubst du, wer die waren?«
»Offenbar hatten die Hochgewachsenen schon andere Spielzeuge vor uns«, bemerkte er skeptisch.
Das ärgerte Tiadba. »Wir sind keine Spielzeuge, das hab ich dir doch gesagt. Und das waren sie auch nicht.« Mit finsterem Blick suchte sie nach den richtigen Worten. »Vielleicht sind sie unsere …« Diese Vorstellung war so peinlich. »Wie nennt man das … Vielleicht sind diese Leute unsere Vorfahren .«
In der winzigen Loge, die wie eine Tasse geformt war, sahen sie dem Festzug zu, bis sich ihre Muskeln verkrampften. Dann standen sie abwechselnd auf, um die Glieder zu strecken. Zwangsläufig führte das zu noch engeren Körperkontakten. Jedes Mal, wenn sie einander streiften, erst recht, wenn ihre Körper sich aneinanderrieben, war es wie ein Stromstoß.
»Wir können nichts über sie
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