Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
herausbekommen«, bemerkte Tiadba mit zusammengekniffenen Augen, »solange wir ihre Sprache nicht verstehen und ihre Schrift nicht lesen können.«
    Er quetschte sich wieder an die Wand und versuchte seine Gefährtin im schwachen Licht eingehender zu betrachten. Sie hatte jetzt etwas Gespenstisches an sich, denn der Widerschein der Linsen hob ihr rundes Kinn und die hohen Wangenknochen hervor und ließ ihre schönen Augen glänzen.
    »Man braucht Training und eine Ausrüstung, um die Grenze des Realen zu überqueren«, sagte sie. »Kleidung, Apparate,
Dinge, die wir noch nie gesehen haben. Man kann nicht einfach allein losziehen, dann stirbt man nämlich.«
    »Und wer stellt die Kleidung und die Apparate?«
    »Keine Ahnung.«
    »Wie viele Märsche hat die Sama schon organisiert?«
    »Auch das weiß ich nicht.«
    »Arbeitet sie mit den Hochgewachsenen zusammen?«
    Tiadba schüttelte den Kopf.
    »Und wer darf den Anführer spielen und die Lorbeeren einheimsen? «
    »Das weiß keiner von uns.«
    Jebrassy holte tief Luft. Die Sache war nicht annähernd so einfach und klar, wie er gehofft hatte. Schließlich quetschte er sich wieder neben Tiadba. »Also gut. Ich hab keinen blassen Schimmer davon, wie ich zugeben muss. Wie heißt diese Sama?«
    Tiadba tat so, als konzentriere sie sich auf die Linsen. »Das hier muss irgendeine Feier gewesen sein«, murmelte sie. »Vielleicht haben auch sie einen Marsch auf den Weg gebracht, und das ist die Abschiedszeremonie. Heute ist alles so anders. Aber man sieht, dass sie in die Hochwasserkanäle steigen. Und die Kanäle sind sauber, da liegt kein Schutt. In den Mauern sind lauter Behausungen. Damals haben unheimlich viele Leute in den Ebenen gewohnt. Warum ist das anders geworden?«
    Widerwillig sah Jebrassy wieder hin.
    »Da ist auch eine Tür, die Öffnung zu einem Aufzug, und der Aufzug funktioniert«, sagte Tiadba. »Vielleicht haben sie den Hochgewachsenen ein Geschenk überbracht – damit sie den Marschteilnehmern helfen, schneller voranzukommen oder so.«
    Jebrassy sah sich alles genau an: Viele der Versammelten hatten auf ihren Schultern Tragen befestigt, die mit Speisen beladen waren, oder schleppten Käfige mit Buchstabenkäfern mit sich herum. Die Käfer sahen genauso aus wie diejenigen, die sich die Nachgezüchteten der alten Art immer noch als Haustiere hielten. Manche hatten auch Bücher dabei. Ungeschickt holte er das Bild näher heran, um sich die Titel auf den Buchrücken anzusehen, doch er konnte sie nicht entziffern. Die Schriftzeichen waren alt, wie jene auf den Rücken der ältesten Buchstabenkäfer, und die Wörter ergaben keinen Sinn.
    »Im Gemäuer auf den oberen Stockwerken gibt es immer noch solche Bücher«, bemerkte er. »Nur kann man sie nicht herausnehmen.«
    »Ich weiß.« Tiadba zog vielsagend eine Augenbraue hoch, als wäre sie in diese rätselhafte Sache eingeweiht.
    Der Festzug überquerte den Kanal und baute sich am anderen Ende vor einer Mauer auf. Gleich darauf öffnete sich eine große Tür, die bisher unsichtbar gewesen war, und die Leute reichten die Speisen und die anderen Gaben, darunter auch Bücher, hindurch. Als Tiadba mit der Wange zuckte, trat an die Stelle der Szene ein Schaubild: eine dreidimensionale Zeichnung oder Karte.
    Der Blickwinkel war unglaublich: Er lag jetzt oberhalb des Kanals, wanderte durch die Mauer zum künstlichen Himmel hinauf, verfolgte einen leuchtenden Punkt auf einer vertikalen roten Linie (das musste der Fahrstuhl sein), stieg höher und höher, durchschnitt dabei schwindelerregend komplexe Konstruktionen (vermutlich die oberen Teile der Kalpa), die so transparent wie Glas wirkten, bis Tiadba und Jebrassy schließlich die drei Inseln der Ebenen tief unten entdeckten.
    Zum ersten Mal erkannte Jebrassy, wie sich ihre Heimstatt in das Gesamtbild einfügte. Drei große, abgerundete Gebilde, die wie gigantische, sanft geschwungene Höcker wirkten, lagen nebeneinander, wobei das mittlere in einen ummauerten Innenraum hineinragte, der nach oben hin offen war … Doch aus dieser Perspektive war der künstliche Himmel nicht auszumachen; vielleicht lag der Blickwinkel außerhalb der Kalpa, wo es möglicherweise gar keinen künstlichen Himmel gab.
    Auch die nächsten Bilder waren von weit oben, aber aus noch größerer Distanz aufgenommen. Der Punkt wanderte die rote Linie hoch und schnitt durch die abgerundete Spitze des mittleren Höckers. War das die Kalpa? Oder galt die Bezeichnung für alle drei Höcker? Erst jetzt

Weitere Kostenlose Bücher