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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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wurde Jebrassy klar, wie riesig die ganze Anlage war, hundertmal größer als die Ebenen selbst, die ganz unten lagen. Inzwischen schwirrte ihm in der Tat der Kopf.
    Der Punkt wurde langsamer und kam am Fuß eines Turms zum Stillstand. Während die Perspektive sich veränderte und die ganze Länge des Turms einfing, verharrte der Punkt, der den Aufzug mit den Gaben aus den Ebenen anzeigte, am Fuß des Turms. Das Turmende ragte so hoch über die Kalpa hinaus, dass der Abstand dazwischen sicher so groß war wie der zwischen dem Sockelgeschoss der Ebenen und dem Fuß des Turms. Oben endete der Turm unvermittelt in einer gespaltenen Kuppel, als hätte ihn jemand gewaltsam in zwei Hälften zerbrechen wollen.
    »Die Sama nennt den Turm Malregard «, erklärte Tiadba. »Hast du schon mal vom Zerstörten Turm gehört?«
    »In Kindergeschichten«, erwiderte Jebrassy schwer atmend und mit tränenfeuchten Augen. Gerade hatte er mehr erfahren,
als irgendjemand aus seinem Bekanntenkreis wusste, einschließlich seiner Paten und deren Paten. Vielleicht hatte überhaupt keine Generation ihrer Art je über dieses Wissen verfügt. »Malregard«, wiederholte er und versuchte den Blickwinkel so zu verändern, dass er erkennen konnte, was die Kalpa umgab – vermutlich das Chaos –, doch er sah nichts als bläulichen Nebel.
    » Malregard bedeutet böser Blick , sagt die Sama«, bemerkte Tiadba. »Da fragt man sich doch, was sich da draußen befinden mag.« Sie beobachtete seine Reaktion.
    »Falls du zum nächsten Marsch zugelassen wirst … Kann ich dann mitkommen?«
    »Ich entscheide ja nicht darüber.«
    »Entscheidet … diese Sama darüber?«
    »Sie teilt uns die Entscheidungen mit.«
    Er rieb sich das Gesicht und schüttelte, von Gefühlen überwältigt, den Kopf. »Man spielt mit uns. Kein Hochgewachsener würde einem der alten Art jemals so viel anvertrauen, wie wir eben gesehen haben. Ich muss nachdenken. Du kannst ja zu deiner Nische zurückgehen.«
    »Ich kann dich hier nicht zurücklassen. Sie warten auf dem Dammweg auf uns.«
    »Wer?«
    »Einige aus der Gruppe. Jetzt, wo du Bescheid weißt, kannst du nicht einfach zurückkehren und es womöglich herumerzählen. Das können wir nicht riskieren.«
    Jebrassy bekam eine ähnliche Panikattacke wie in dem engen Schacht der Wendeltreppe. »Du spielst den Lockvogel, und ich bin der Schwachkopf, der sich locken lässt. Werden die mich umbringen, falls ich nicht pariere?«
    Tiadba wirkte echt schockiert. »Unsere Art bringt einander nicht um, niemals.«
    »Es sei denn zufällig, vielleicht in einem kleinen Krieg. Und dann heißt’s: Welches Pech aber auch! Genau deswegen hat mich eure Sama ausgewählt: weil ich ein rücksichtsloser Draufgänger bin, bei dem es sehr wahrscheinlich ist, dass er irgendwann umkommt oder ins Unbekannte verschwindet, genau wie dieser arme Schwachkopf dort unten. War er euer letzter Kandidat? Was hat er falsch gemacht?«
    »Du verhältst dich widerlich!«
    »Ich denke nur laut.«
    »Wir werden viel Zeit miteinander verbringen«, sagte Tiadba leise. »Die Gruppe verlangt, dass jeder Teilnehmer mit einem Partner zusammenarbeitet. Spürst du denn gar nichts? Wir sind bereits Partner.«
    »Was ich spüre, ist keineswegs so eindeutig. Etwas läuft hier falsch, das spüre ich.«
    Tiadba schwenkte den Arm und deutete auf die Diurne. »Wer kann schon irgendetwas mit Sicherheit behaupten? Was ist, wenn wir bei einem Überfall umkommen? Was ist, wenn die Zeit einfach stehen bleibt?«
    »Ich glaube … Ich glaube, das würden wir nicht einmal merken«, erwiderte Jebrassy, doch beim Gedanken an diese Möglichkeit und das, was knapp unter der Schwelle seiner Erinnerungen lag und er nicht richtig fassen konnte, stellten sich ihm die Härchen auf. Er dachte an all das, was aus den Fugen geraten konnte, aus den Fugen geraten würde , selbst wenn sie sich niemals ins Chaos hinauswagten.

ZEHN NULLEN

24
    Tag für Tag verloren Daniels Erinnerungen etwas mehr an Farbe und Tiefe, bis das Denken an Vergangenes ihm so vorkam, als betrachte er ein verblasstes Negativ oder einen Abdruck in feuchtem Sand. Immer stärker machte sich Charles Granger mit all seinen eingefleischten Gewohnheiten, seinen Instinkten und den allgegenwärtigen Schmerzen in ihm bemerkbar. Es war so, als überspüle eine pausenlos hereinströmende Flut einen im Körper von Granger gestrandeten Eindringling.
    Daniel öffnete Grangers Pappkarton und holte den Marker, den stumpfen Bleistift und mehrere Blatt

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