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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Papier heraus. Danach verteilte er die Seiten auf dem verzogenen Holzfußboden, wobei er darauf achtete, sie nicht auf feuchte Stellen zu legen, und untersuchte sie kritisch. Sie waren mit handschriftlichen Notizen übersät; das Meiste wirkte verrückt, denn die Buchstabenfolgen ergaben auf den ersten Blick keinen Sinn. Ganze Reihen bestanden aus Wörtern, die sich ständig wiederholten, nur dass jedes Mal irgendein Buchstabe im Wort verändert war. Außerdem hatte Granger jede Menge Zahlen notiert.
    Charles Granger war ein Gelegenheitsdichter gewesen, aber auch ein Denker und Logiker, vielleicht sogar ein Mathematiker. Seinen Kritzeleien lag irgendein sonderbares Ordnungsprinzip zugrunde, allerdings konnte Daniel es nicht rekonstruieren.
    Die Steine wussten, wen sie erwählten. Und wann sie vielleicht besser daran taten, auf eine Veränderung zu drängen.
    Daniel blätterte die Seiten durch. Manche davon waren unbeschrieben. Es war an der Zeit, sein Leben, seine Gedanken vor dem letzten Sprung zu rekonstruieren. Er konnte alles, was ihm einfiel, auf den leeren Flächen zwischen Grangers Geschwafel aufzeichnen. Wie passend! Doch viel schwieriger, als Platz zwischen Grangers Zeilen zu finden, war es, sein Gehirn, seinen Körper dazu zu bringen, den Bleistift zu halten und damit zu arbeiten. Was immer Granger auch vorgehabt haben mochte, die Aufgabe – das Problem – hatte ihn überfordert. Er war reif dafür gewesen, ersetzt zu werden, allerdings schon überreif, so dass sich ein Ersatz für ihn kaum noch lohnte.
    Daniel lächelte bitter, ohne den Mund dabei zu öffnen.
    Dennoch begann er in der klammen Dunkelheit, während eine Kerze auf dem Kaminsims, eine weitere in einem Marmeladenglas auf dem Fußboden brannte und beide die aufgefächerten Blätter in schwaches Licht tauchten …
    … zu schreiben. Grangers krakelige Schrift glättete sich nach und nach und wurde seiner eigenen ähnlicher. Es war recht begrenzt, was er in der verbleibenden Zeit – der Zeit, die Granger noch blieb, der Zeit, die dieser Welt noch blieb – steuern und verbessern konnte. Vor Konzentration runzelte er die Stirn und schrieb:
    Granulöser Raum. Entscheidend ist die Lokalität.
    Danach folgten mehrere Gleichungen, die sich eigentlich gar nicht so sehr von Grangers Kritzeleien unterschieden; die Lektüre von Richard Feynmans Arbeiten hatte Daniel vor Jahren auf die Idee gebracht, ein selbst erfundenes mathematisches Zeichensystem zu verwenden. So würde niemand sonst entschlüsseln können, was die Symbole bedeuteten.
    Alle Schicksalsfäden sind mittlerweile an Lokalitäten gebunden.
    Die Raumzeit hat sich aufgelöst/aufgespaltet.
    Das Universum ist dabei, sich selbst zu verzehren, verwandelt sich in widerliche faule Molke, gerinnt wie saure Milch.
    Die geodätischen Dimensionen verkürzen sich, stauen sich, fressen sich fest. Saiten (Stränge?) und Fundamentalkräfte. Licht und Gravitation durchqueren die Membranen, doch Materie gelangt nicht hindurch.
    Noch nicht.
    So sehe ich es.
    Er notierte drei weitere Gleichungen, lange und nicht sonderlich elegante Gleichungen, die viele konzeptuelle Lücken aufwiesen. Der Versuch, diese Ideen zu quantifizieren und zu formalisieren – sie so konsistent und anwendbar auszudrücken, dass sie Prognosen erlaubten –, war mehr als schwierig. Selbst früher, bei guter Gesundheit, war ihm so etwas verdammt schwergefallen, fast ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Hand ermüdete bereits, und sein Kopf tat ihm weh, genau wie der Magen.
    Er musste unbedingt rekonstruieren, was er aufgeschrieben hatte, ehe er in diesen Alptraum geraten war. Seinerzeit hatte
er gewisse Theorien entwickelt, die über diese Gleichungen hinausreichten. Er hatte sie zwar noch nicht quantifizieren können, doch gerade deswegen waren sie in gewisser Hinsicht stimmiger und nützlicher gewesen.
    Die Landkarte ist nicht das Gelände.
    Indem er bewusst gegen Grangers verworrenen Schreibstil ankämpfte, gelang es Daniel, sich frühere Erkenntnisse zügig ins Gedächtnis zu rufen und sie aufzuzeichnen.
    Wesentlich ist, dass sich einzelne Weltlinien zu größeren Grundbausteinen zusammenfassen lassen. Unterhalb dieser Bausteine liegen die Linien einzelner Komponenten, die durch Beobachtung zur Ebene der Grundbausteine aufsteigen können. Und noch weiter darunter liegen die Schwingungen und Mehrfachschwingungen, die sich normalerweise nicht beobachten lassen, im zerfallenden Multiversum jedoch deutlich hervortreten. Meistens erlangen

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