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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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wir den Zugang zu diesen Schwingungen, wenn wir meditieren, unsere Fantasie spielen lassen oder träumen. Doch üblicherweise treten sie nicht so in den Vordergrund, dass sie sich unsere grundlegende, nach vorn gerichtete Zeitachse einverleiben.
    Dennoch leisten sie einen Beitrag. Sie sind die Wegintegrale, fügen alle Geschichten, alle Dinge zusammen.
    Beobachter des Elementaren sind bereits im Frühstadium des Multiversums aufgetaucht, haben die wirksamsten Methoden der Wegintegrale bestimmt und gefördert, haben die dem Multiversum eigene Fähigkeit verfeinert, sich selbst weiter auszubreiten, und logische Simplizität hergestellt.
    Auf uneigennützige Weise sind sie »intelligent«. Doch da sie nichts selbst erschaffen, sondern nur justieren und verfeinern, kann man sie nicht als Gottheiten betrachten.
    Eine solche Beobachterin des Elementaren ist Mnemos …
    Plötzlich überhitzte sich sein Gedankenstrom und verdampfte im glühenden Krater des Schmerzes und der Gefühlswallungen. Er ließ den Bleistift fallen und schlug mit der Faust so lange auf den Boden ein, bis der innere Schmerz nachließ. Er hatte versucht, sich einen Namen ins Gedächtnis zu rufen, der offenbar etwas mit der Erinnerung zu tun hatte … Aber es war nicht der Name einer Gottheit, sondern der einer Muse.
    Mühsam umklammerte er den Bleistift und zwang die zitternden Finger, weitere Sätze aufzuschreiben, ehe sie ihm völlig entfielen.
    Wegintegrale. Sums-over-history.
    Linien, Stränge, Verflechtungen, Spannseile, Elementarkräfte …
    Schicksalsfäden.
    Alle möglichen Pfade, die ein Teilchen oder ein Mensch einschlagen kann, unendlich viele Wege, die sich über die ganze Raumzeit erstrecken, schwach, wo sie unwahrscheinlich, stark, wo sie wahrscheinlich sind – kollabieren am Ende zu einem einzigen energieeffizienten Pfad, zur ergiebigsten und einfachsten Weltlinie.
    Doch das gilt jetzt nicht mehr.
    Die Effizienz wird auf den Kopf gestellt.
    Die Regeln werden nicht mehr eingehalten .
    Er blickte auf. Lippen und Kiefer hingen so schlaff herunter, dass die faulen Zähne zu sehen waren. Er wurde nicht mehr schlau aus dem, was er gerade geschrieben hatte. Jetzt musste er schnell handeln.
    Er musste einen günstigeren Schicksalsfaden finden, einen Ort, an dem Granger bei besserer Gesundheit, als stärkerer Mann existierte. Schon seit Tagen zögerte Daniel, sich auch nur an den Versuch zu machen. Er war davor zurückgeschreckt, weil er eine traumartige Erinnerung an einen unendlichen Verlust, unendlichen Schrecken mit sich herumschleppte. Nur noch vage war ihm im Gedächtnis, was ihn überhaupt gezwungen hatte, sein früheres Selbst und seine Heimat aufzugeben; was ihn dazu gebracht hatte, wie eine Möwe vor einem Orkan zu flüchten.
     
    Die Dämmerung senkte sich bereits über die Fünfundvierzigste Straße, als er nach Westen marschierte, in das verblassende Licht, zur Quelle der langen Schatten. Immer noch schwirrte ihm der Kopf. Am letzten Buchantiquariat in dieser Gegend hielt er an – alle anderen hatte er bereits bis zur Erschöpfung abgeklappert – und ging vor der Ladenfront auf und ab. Das letzte Fenster gab den Blick auf angestaubte, wild aufeinandergetürmte Auslagen frei.
    Er verließ sich auf sein Bauchgefühl, trat über die Schwelle und löste dabei die Glocke aus, die über der Tür baumelte.
    Die Inhaberin, eine kleine, dicke Frau mit weißem Haar und rundem Gesicht, die ihn an ein altes Apfelweibchen erinnerte, stand von ihrem Hocker auf und kam um die hüfthohe Glasvitrine herum, die ihr auch als Tresen diente. Dabei ließ sie ihn deutlich merken, dass sie auf der Hut war. Die fette, rötlich getigerte
Ladenkatze blickte von ihrem Bettchen an der Kasse auf und streckte sich.
    Die Kasse stand am Ende der Vitrine, in der die Alte solche Bücher ausstellte, auf die sie offenbar stolz war; zumindest waren diese Bücher wertvoller als die Liebesromane mit den zerfledderten Buchrücken und die Bestseller, die den wesentlichen Warenbestand dieser Buchhandlung ausmachten. Daniel erkannte ein Reisebuch von Richard Halliburton, Krimis der Nancy-Drew-Reihe in Schutzumschlägen, eine alte Oxford-Bibel mit abgewetztem Ledereinband. Langsam wanderte sein Blick zum letzten Band in der Vitrine, der ganz rechts im untersten Fach stand: Es war ein dickes, gebrauchtes Taschenbuch. Die roten Buchstaben, die Titel und Autor angaben, waren so verblasst, dass sie kaum noch lesbar waren, aber als er die Augen zusammenkniff, konnte er sie

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