Die Stadt der gefallenen Engel
eine dicke Schicht Watte in ihr Bewusstsein. Ihr Herz schlug kraftvoll und lebendig – so wie es auch für Damian geschlagen hatte. Und Lara gab sich noch einmal ihrer Erinnerung an ihn hin.
Sein schmales, ernstes Gesicht. Sein schüchternes Lächeln. Die erste Berührung. Der erste Kuss. Dieses wunderbare Gefühl von Geborgenheit, als sie in seinen Armen eingeschlafen war. Sie hatte sich in dieser Nacht so voller Liebe gefühlt.
Das sollte ihr letzter Gedanke sein.
Diese Erinnerung würde sie mit in die Ewigkeit nehmen.
Den vollkommenen Moment in einem unvollkommenen Leben.
Der Zug war nun fast heran. Lara spürte den Luftzug, den er vor sich her durch den Tunnel trieb. Es war Zeit zu gehen. Lara schloss die Augen und sprang.
68.
Damian sah Lara am Bahnsteig stehen. Instinktiv ahnte er, was sie vorhatte. Seine Hand streckte sich hilflos nach ihr aus. Er wollte schreien, sie auf sich aufmerksam machen, aber es war bereits zu spät. Er würde sie nicht mehr erreichen.
Laras Körper spannte sich. Dann sprang sie vorwärts. Sie würde direkt vor dem einfahrenden Zug auf den Schienen landen und von ihm überrollt werden.
Aber in dem Sekundenbruchteil, bevor der Zug ihren Körper erfasste, geschah ein Wunder. Ein Schemen flog von der anderen Seite der Gleise heran, packte Lara noch in der Luft und riss sie mit sich auf den Bahnsteig.
Damian starrte ungläubig auf den Engel. Nemathan musste kurz nach ihm den Bahnhof erreicht haben. Bei seiner Suche war er auf die gegenüberliegende Seite des Bahnsteigs gekommen und hatte Lara im letzten Augenblick entdeckt. Seine übermenschlichen Kräfte hatten sie vor dem sicheren Tod bewahrt. Damian warf dem Engel einen dankbaren Blick zu, den dieser freundlich erwiderte.
Lara lag auf dem Rücken und starrte ihn verwirrt an. Ihr Geist hatte sich auf den Tod vorbereitet und scheinbar verstand sie nicht, weshalb sie noch am Leben war.
Dann erkannte sie ihn.
Ihr Mund öffnete sich zu einem wilden Schrei. Sie sprang auf die Füße und stürzte sich auf ihn. Kreischend schlugen ihre Hände nach ihm. Ihre Fingernägel fuhren durch sein Gesicht und hinterließen tiefe, blutige Spuren.
Damian wehrte sich nicht. Er versuchte nicht, sich zu schützen. Die Arme ausgestreckt, ließ er alles wortlos geschehen.
»Du hast mich verraten«, schrie Lara immer wieder. »Wer bist du? Was hast du mir angetan?«
Hinter Sanael tauchten weitere Engel auf, die stumm die Szene beobachteten. Schließlich trat Gabriel vor.
Alles war rot, alles war Feuer. Der Schmerz brannte in ihr. Finsternis hatte sich mit Damians Erscheinen vor ihr aufgetan. Sie wusste nicht, was sie tat, wusste nur, dass sie ihm Schmerzen zufügen wollte. Er sollte leiden wie sie. Also stürzte sich Lara auf ihn. All ihre Wut und Enttäuschung schleuderte sie demjenigen entgegen, den sie so sehr liebte.
Plötzlich legte sich eine Hand sanft auf ihre Schulter und sie hielt abrupt inne. Eine weiche Stimme flüsterte: »Du stehst in seiner Gnade, für alle Zeit.«
Die feurigen Schleier des Zorns lichteten sich. Lara konnte wieder klar sehen. Sie sah Damian, sah die blutigen Striemen, die sie seinem Gesicht zugefügt hatte. Ihr Blick wanderte zu seinen Augen, die voller Liebe waren.
Es war zu viel. Alles war zu viel. Kraftlos ließ sie sich zu Boden sinken und weinte.
Sie spürte, wie sich Damians Arme fest um sie schlossen. Mühelos wurde sie auf die Füße gezogen. Im nächsten Moment nahm sie seinen ganzen Körper wahr, seine Wärme, seinen vertrauten Duft, und sie gab sich ganz dem Gefühl hin, das ihren zitternden Körper durchströmte. Diesmal war es kein Feuer, das alles zu versengen drohte. Es war eine wundervolle Wärme, die ihr Geborgenheit schenkte und ihr die Angst nahm.
»Wer bist du?«, flüsterte sie kaum hörbar. »Bist du der Teufel persönlich?«
»Nein«, antwortete Damian ruhig. »Ich diene ihm nur.«
»Aber dein Name … anders buchstabiert ergibt sich Satan daraus.«
»Wir alle tragen seinen Namen. Wir sind seine Diener.«
Laras Körper erfasste ein erneutes Zittern, aber sie biss sich fest auf die Lippen und löste sich von Damian. Sie stand ihm gegenüber und entdeckte ihr winziges Spiegelbild in seinen eisgrauen Augen.
»Sag es mir! Sag mir alles!«
»Wie soll ich es dir sagen?«
»Fang von vorne an.«
»Dafür ist keine Zeit. Wir müssen gehen, du bist in großer Gefahr …«
»Ich gehe nirgendwohin, bevor ich nicht die Wahrheit kenne.« Laras Stimme war ein kaum hörbares Flüstern,
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