Die Stadt der gefallenen Engel
Teller.
»Schau mich an.«
Lara hob den Kopf und nickte. »Ja, Opa hat es mir erzählt.«
»Gut. Das ist in Ordnung so, aber ich denke, wir sollten darüber reden.«
»Okay.«
»Ich will dir nichts vormachen, Lara. Krebs ist eine ernste Erkrankung, aber so schlimm, wie dein Großvater es dargestellt hat, ist es nun auch wieder nicht.«
»Opa hat gesagt … er hat gesagt …« Weiter kam sie nicht. Die Worte wollten ihren Mund nicht verlassen. Sie konnte es nicht aussprechen.
»Dass ich bald sterben muss?«
»Ja.«
»Das wissen weder die Ärzte noch dein Großvater.« Stolz trat in ihre Augen. Kampfgeist.
Lara bewunderte sie dafür.
»Ich bin nicht bereit, so schnell aufzugeben. Zwar glaube auch ich nicht an ein Wunder, aber man wird sehen, wie viel Zeit mir bleibt.«
Die alte Dame erhob sich entschlossen. Mit fahrigen Händen strich sie die Schürze glatt. »So, jetzt wird es aber Zeit. Du weißt, heute ist der Geburtstag deines Großvaters und wir erwarten Gäste. Ich muss noch einiges vorbereiten.«
»Kann ich dir helfen?«
»Nein, danke, Lara. Ich schaff das schon.« Sie blickte auf die Küchenuhr. »Oh, schon so spät. Ich muss zum Cateringservice und noch ein paar Sachen mit den Leuten dort besprechen.« Während sie den Knoten der Küchenschürze löste, fragte sie ihre Enkeltochter: »Und was hast du bis heute Abend vor?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Triffst du Damian?«
»Nein, er hat Vorlesungen, aber er kommt heute Abend kurz vorbei, um für Großvater ein Geschenk abzugeben.«
»Lade ihn doch ein. Sag ihm, er soll zur Party kommen.«
»Ehrlich?«, fragte Lara, die schon enttäuscht gewesen war, dass sie heute nichts miteinander unternehmen konnten.
»Ja, er ist immer willkommen. Dein Großvater mag ihn. Wahrscheinlich erinnert ihn Damian an sich selbst in diesem Alter.«
»Das wäre toll.« Lara strahlte.
Martha sah sie nachdenklich an. »So schlimm ist es?«
»Ja, Oma. So schlimm«, grinste Lara. »Ich bin verliebt.«
Rachel Winter saß in ihrem Büro und starrte in Gedanken versunken auf den Monitor ihres Computers, ohne wahrzunehmen, dass der Bildschirmschoner sich eingeschaltet hatte und anstatt einer Excel-Tabelle nun die künstlichen Fische eines virtuellen Aquariums zu sehen waren.
Sie dachte an Lara. An das Telefonat mit ihr, aber auch an das Gespräch mit ihrem Vater. Es hatte sie eigenartig berührt, seine Stimme nach so langer Zeit zu hören.
Sie hatte Lara die Wahrheit über Michael und die Ereignisse in jener Nacht gesagt. Ihr von den schweren Vorwürfen ihrer Eltern berichtet, aber nicht davon gesprochen, dass sie sich von den eigenen Eltern manipuliert gefühlt hatte.
Ihr Vater hatte Michael mit nach Hause gebracht, die Weichen für das gestellt, was kommen sollte. Aber nicht nur das, beide Eltern hatten ihr immer wieder gut zugeredet und darüber gesprochen, was für ein schönes Paar sie waren. Und sie hatte ihnen geglaubt. Sich in Michael verliebt und die Wahrheit erst erkannt, als es zu spät war.
Sie wusste nicht, warum oder weshalb, aber sie hatte sich benutzt gefühlt, von ihm und von ihren Eltern.
Und nun spürte sie, dass etwas mit Lara geschah. Wieder war ein junger Mann im Spiel, der auf perfide Weise in irgendeiner Beziehung zu ihrem Vater zu stehen schien.
Was kann ich tun?
Wie kann ich Lara schützen?
Sicher, sie konnte nach Berlin fliegen, ihre Tochter aus dem Haus zerren und zurück nach Rottenbach bringen – aber würde ihr das Lara jemals verzeihen? Würde sie überhaupt mit ihr kommen? Lara wurde bald achtzehn. Sie war kein kleines Kind mehr, das man an den Ohren hinter sich herziehen oder mit der Drohung von Fernsehentzug bestrafen konnte.
Lara war verliebt, das hatte Rachel deutlich aus ihren Worten herausgehört, obwohl sie es nicht gesagt hatte.
Betrübt schüttelte sie den Kopf, als ihr bewusst wurde, dass sie rein gar nichts tun konnte. Lara würde in wenigen Tagen zurückkommen und bis dahin hieß es, sich auf die Lippen zu beißen, damit sie nicht nach dem Telefonhörer griff, anrief und ins Telefon schrie: »Bitte komm nach Hause. Ich habe Angst um dich.«
Wahrscheinlich machten das alle Eltern irgendwann einmal durch. Sie wussten oder spürten, dass etwas nicht gut für ihr Kind war, und mussten es dennoch geschehen lassen. Lara musste ihre eigenen Erfahrungen, ihre eigenen Fehler machen und ihr als Mutter blieb nichts als die Hoffnung, dass es keine Fehler waren, von denen es kein Zurück mehr gab.
38.
Der 3. Kreis der
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