Die Stadt der gefallenen Engel
einem Spaziergang ein. Sie beobachtete, wie der Wind mit dem gefallenen Laub spielte, aber ihre Gedanken waren bei Damian.
Deutlich sah sie sein Gesicht vor sich, seinen Mund, sein Lächeln, und als sie die Augen schloss, konnte sie noch immer seine Lippen auf den ihren spüren. Der Kuss war anders gewesen als alles, was sie bisher erlebt hatte. Allein der Gedanke daran gab ihr das Gefühl, als würde sie innerlich brennen. Ein angenehm warmes Gefühl durchströmte ihren Körper, wie ein sanft loderndes Feuer breitete es sich in ihrem Inneren aus, durchströmte sie bis in ihre Fingerspitzen. Niemals hatte sie sich vorgestellt, dass es so etwas geben konnte. Was sie mit Ben erlebt hatte, kam ihr angesichts dieser Empfindung nun wie eine alberne Kinderei vor. Mit Damian war es so anders … so wunderschön. Hatte sie bisher geglaubt gehabt, geliebt zu haben, so musste sie sich nun eingestehen, dass sie sich getäuscht hatte. Das hier war größer als alles, was sie jemals empfunden hatte.
Lara öffnete benommen die Augen, noch immer betäubt von ihren intensiven Gefühlen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es noch Stunden bis zur Geburtstagsparty ihres Großvaters dauern würde. Lara seufzte laut auf. Wie sollte sie bloß die Zeit bis dahin totschlagen, ohne aus Sehnsucht nach Damian verrückt zu werden?
Zu lesen hatte sie nichts mehr. Schon in den ersten Tagen ihres Berlinaufenthaltes hatte sie die beiden mitgebrachten Bücher ausgelesen. Okay, dann wollen wir doch mal sehen, was Opa und Oma so lesen, dachte Lara und ging zur Bibliothek hinüber.
Ein schwerer Vorhang verdeckte das große Fenster, aber Lara zog ihn kurz entschlossen auf und ließ das Tageslicht ins Zimmer. Es war ein behaglicher Raum mit Regalen, die drei Seiten des Zimmers bedeckten und bis zur Decke reichten. Bücher über Bücher. Tausende.
Obwohl ihr Großvater nicht anwesend war, nahm Lara seinen Geruch wahr, eine Mischung aus Rasierwasser, Zigarrenrauch und Wissen. Sein großer Schreibtisch aus dunklem Eichenholz war ordentlich aufgeräumt. Zwar stapelten sich einige Aktenordner darauf, aber sie bildeten einen ordentlichen Turm, neben dem die lederne Schreibunterlage und der Federhalter in seinem Tintenglas nicht in Gefahr waren.
Mitten im Raum standen sich, nur durch einen runden Holztisch getrennt, ein altmodisches Sofa und ein brauner Ledersessel gegenüber. Beide Möbelstücke waren gut gepolstert. Lara wusste von den gemeinsamen Abenden mit ihrem Großvater in der Bibliothek, dass man hervorragend darauf herumlümmeln konnte – allerdings sah es ihr Großvater nicht gern, wenn man es sich mit Jeans oder Schuhen darauf bequem machte. Er behauptete, die Metallnieten der Jeans würden das Leder zerkratzen und Schuhe hatte man gefälligst auszuziehen, bevor man sich hinlegte.
Aber dieses Mal gab es kein Risiko für seine kostbaren Möbel, denn Lara trug eine schwarze Jogginghose und ein graues Sweatshirt, beides aus Baumwolle. Ihre Füße steckten in weichen, warmen Wollsocken, die kitzelten, als sie über den dicken dunkelroten Teppich zum Regal rechts des Fensters ging.
Hier standen wissenschaftliche Werke und Abhandlungen, manche davon sehr alt und mit Ledereinbänden versehen, die bereits brüchig geworden waren. Lara ließ ihren Blick darüber wandern. Neben zahlreichen Büchern zur Geschichte der Menschheit gab es auch Werke, die sich mit Okkultismus beschäftigten.
Sie zog eines davon heraus.
Disquisitionum magicarum libri sex war als Titel in das weiche Leder geprägt.
Als Lara das Buch aufschlug, las sie überrascht, dass es im Jahr 1617 gedruckt worden war. Bestimmt sehr wertvoll, dachte sie und stellte es vorsichtig zurück.
Das nächste Werk war noch älter, aus dem Jahr 1599, und hieß De philtris, utrum animi hominum his commoueantur, nee ne und beschäftigte sich mit Liebeszauber. Lara blätterte ein wenig darin herum. Es ging um sogenannte Philtren – Liebestränke, denen mithilfe der Macht des Teufels angeblich Wirkung verliehen werden konnte.
Lara grinste. Vielleicht sollte sie Damian einen derartigen Trank einflößen … Aber seit der letzten Nacht war sie sich sicher, dass er sich von ihr angezogen fühlte, vielleicht sogar in sie verliebt war.
Als sie das Buch wieder zuschlagen wollte, fiel ein einzelnes Foto heraus und segelte langsam zu Boden. Lara bückte sich und hob es auf.
Es war eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie, die feierlich gekleidete Menschen zeigte, die sich zu einer Gruppe aufgestellt
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