Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
noch nicht gesehen. So dunkel, dass man Angst kriegen konnte. Richtige Angst. Die Leute saßen schreiend und weinend auf den Dächern. Das Geschrei kam von überall, aber man konnte nichts sehen. Man hörte das Wasser spritzen und Sachen vorbeischwimmen, aber man konnte sie nicht sehen. Man wusste nicht, sind das Menschen oder Ratten. Und manchmal strahlte von oben ein Flutlicht runter, und dann sah man alles, nur eine Sekunde lang. Es war wie in der Disco. Es war beängstigend. Richtig beängstigend. Und dann, in der dritten Nacht, hatten wir genug. Meine Mom hat gebetet, ich habe gebetet, aber es fiel uns nicht leicht, wissen Sie. Ist ganz schön schwer, nicht den Glauben zu verlieren. Wir dachten, die Welt hat uns vergessen. Und da sehen wir plötzlich ein kleines Licht. Dieses winzige Licht von ganz weit weg. Und dann kommt ein Boot heran, wie im Film oder wie in einem Traum. In dem Boot sitzt jemand mit einer Taschenlampe. Es sah aus wie eine kleine Wolke, wie eine Lichtwolke, die auf uns zugeschwebt kam.«
DeShawn lachte, aber seine Augen waren feucht.
»Nach allem, was wir wussten, hätte es auch der liebe Gott sein können. Ich meine, da oben auf dem Dach hat man sich gefühlt wie zu biblischen Zeiten, verstehen Sie? All diese verrückten Sachen, die man in der Bibel gelesen und die man sonst wo gehört hatte, waren plötzlich real. Es war wie eine Prüfung. Alles war möglich. Jedenfalls«, fuhr er fort, »saßen in dem Boot eine Mutter mit ihrem Sohn und ein Mann. Dieser Mann. Die Frau und ihr Kind haben gezittert und geheult, so als müssten sie gleich sterben, es war total verrückt. Und der Mann, dieser da«, er zeigte auf das Bild von Vic, »hat gelächelt. Er sah glücklich und zufrieden aus, so als sei es der schönste Tag in seinem Leben. Außerdem hatte er einen Hund dabei.«
»Einen Hund?«, fragte ich. »Sicher?«
DeShawn nickte. »Ein Hund. Ich glaube, der gehörte dem kleinen Jungen. Ein riesengroßer Schäferhund. Meine Mom hat sich kaum getraut, ins Boot einzusteigen. Ich weiß nicht, wie der Mann uns gefunden hat. Vielleicht hatte er in einem der Boote gesessen, die vorher an uns vorbeigefahren sind. Die Boote, die zu voll waren. Ich weiß es auch nicht. Ich habe mich oft gefragt, wie er uns gefunden hat. Wie dem auch sei. Er half uns beim Einsteigen. Wir wollten noch mehr Leute retten – unsere Nachbarn waren direkt nebenan –, aber wir hatten keinen Platz. Der Mann sagte, das Boot würde umkippen, wenn noch mehr Leute zustiegen. Er hat uns ans Ufer gebracht. Er hat uns auf dem Trockenen abgesetzt, als sei nichts dabei. Meine Mom und ich sind als Erste ausgestiegen, weil wir vorn saßen. Wir wurden von Leuten mit Decken und so Zeugs in Empfang genommen. Als wir uns umdrehten, war das Boot weg.«
»Mein Gott«, sagte Mick.
»Er hat mir das Leben gerettet«, sagte DeShawn, »echt. Ich und meine Mom, wir wären gestorben. Wissen Sie, als wir später unser Haus anschauen gingen, war das Dach eingestürzt. Wir wissen nicht, wann es passiert ist, aber so war es.«
»Er hat dir das Leben gerettet«, wiederholte ich.
DeShawn nickte. »Kennen Sie ihn?«, fragte er.
»Nein«, sagte ich. »Er ist kurz darauf gestorben. Irgendwann während des Sturms. Wir wissen nicht genau, wann. Wir versuchen, es rauszufinden.«
»O Gott«, sagte DeShawn. Er sah geknickt aus. »O Gott, das ist so schrecklich.«
»Hast du ihn danach noch einmal gesehen?«, fragte ich nach einer Weile. »Weißt du, was er getan hat, nachdem er euch abgesetzt hat?«
»Na ja«, sagte er, »ich glaube … ich glaube, er ist nicht mehr zurückgekommen. Wahrscheinlich ist er ertrunken.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte ich.
»Weil ich unseren Nachbarn getroffen habe«, erklärte er, »viel später, in Houston. Wir haben uns unterhalten und Geschichten ausgetauscht. Er hat erzählt, dass der Mann nicht zurückkam. Niemand kam, bis zum nächsten Morgen.«
Wir saßen uns schweigend und mit gesenktem Blick gegenüber.
»Ich dachte immer«, sagte DeShawn schließlich, »ich würde ihn irgendwann finden. Und dann hätte ich mich bedankt.«
»Das kannst du immer noch«, sagte ich.
Er sah mich an. »Meinen Sie, er kann mich hören?«
»Keine Ahnung«, sagte ich, »aber du hast nichts zu verlieren.«
Wir saßen eine Weile stumm da.
Und dann fiel mir ein, was Tracy gesagt hatte.
Der allererste Hinweis.
Plötzlich war mein Kater verflogen. Ich blickte lächelnd auf.
Mick sah mich an.
»Was ist?«, fragte er.
»Nichts«,
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