Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
das Schlafzimmer, sondern das Schlafzimmerfenster.
Ich sah mich um, veränderte meine Haltung. Nein, von diesem Sessel aus war nichts zu sehen als das Schlafzimmerfenster.
Ich stand auf und ging hinüber. Das Fenster ging auf einen kleinen Balkon über der Bourbon Street hinaus. Er war kaum groß genug für zwei oder drei Personen. Direkt davor ragte eine Lebenseiche in die Höhe. In der Balkonecke stand eine abgestorbene Flaschenpalme in einem Blumentopf.
Ich trat auf den Balkon hinaus. Ich blieb ganz ruhig stehen und schloss die Augen. Es war kalt, und ich zitterte, aber ich atmete ruhig weiter, bis das Zittern nachließ und ich nur noch war.
In der Ferne hörte ich Autos. Polizeisirenen. Drei Straßen weiter bellte ein Labrador-Dalmatiner-Mischling zwei Mal. Ich hörte Babys weinen. Einen basslastigen Rap, der ein Auto durchschüttelte. Einen Pistolenschuss auf der North Rampart Street. Alltägliche Stadtgeräusche.
Hier versteckte sich ein Hinweis. Ich konnte ihn fühlen wie einen Schwindel, wie einen Sonnenflecken.
Die meisten Fehler bei der Detektivarbeit unterlaufen bei der Spurensuche. Berufsanfänger glauben, es ginge darum, Hinweise zu finden. Dabei geht es darum, sie als solche zu erkennen.
Spuren sind überall, aber nicht jeder kann sie sehen.
Ich atmete tief durch die Nase ein. Ich nahm den Essensgeruch des benachbarten Restaurants wahr und den Qualm eines Kaminfeuers ganz in der Nähe, außerdem roch es nach Tod, nach der Pflanzenerde im Blumentopf … und nach noch etwas. Ich sog die Luft ein. Ihr Duft war körnig und angenehm und erdig, aber auch ein bisschen muffig, moschusartig.
Ich öffnete die Augen. Ich schob die eingetopfte Palme in der Balkonecke beiseite. Dahinter stand ein hölzernes Vogelhäuschen, vor dem ein schwarzes Häuflein lag. Ich nahm eine Prise und schnüffelte daran.
Das hatte ich gerochen – verfaulte Sonnenblumenkerne. Das Vogelhäuschen war von der Eiche auf den Balkon gefallen.
»Ark.«
Ich hob den Kopf. Im Baum, kaum einen Meter von mir entfernt, saß ein kleiner, grüner Papagei. Er war etwa zwanzig Zentimeter groß, hatte dschungelgrün leuchtendes Gefieder und einen cremeweißen Schnabel. Unter seinen Flügeln sah ich jeweils eine blaue Feder. Seine kleinen Krallen hielten den Zweig umklammert, und er schwankte, als wäre er betrunken. Aber sein Blick war klar und nüchtern.
Er legte den Kopf schief und sah mich an.
»Ark?«, machte er.
Wir sahen einander an.
»Das Restaurant ist geschlossen, Kumpel«, sagte ich. »Such dir Arbeit.«
Aber der Vogel rührte sich nicht. Er sah mich weiter an und wackelte lustig mit dem kleinen Kopf. Er sah aus wie ein Clown in einer kleinen, aufgeblähten Clownshose.
Jede neue Spur ist wie ein neues Augenpaar. Ich sah mich in der Straße um und entdeckte die Vögel in den Nachbarbäumen: Finken, Tauben, ein Rotkardinalweibchen, eine Purpurgrackel auf dem Gehsteig vor dem Hauseingang. Ich hatte sie vorher nicht bemerkt, aber sie waren da.
Ich ging wieder in die Wohnung.
»Er hat Vögel gefüttert«, sagte ich zu Leon. Leon saß immer noch auf dem Sofa. Aus der Kuppelshow war ein Familienduell geworden.
Leon verzog angewidert das Gesicht. Die Einwohner von New Orleans haben ein Problem mit Vögeln.
»Ach, das hatte ich ganz vergessen«, sagte er. »Diese Papageien. Ich glaube, die Stadt hat eine Aktion gestartet, um sie loszuwerden. Eine invertierte Art oder wie das heißt.«
»Invasiv«, sagte ich, »so wie wir.«
»Ja. Die fressen Saatgut«, sagte Leon.
»Wir nicht«, sagte ich.
Er runzelte die Stirn. »Sie sind dreckig«, sagte er. »Sie verbreiten Krankheiten.«
Ich sah ihn an.
»Die kommen aus …«, sagte er und unterbrach sich dann. »Sie leben in …«
»Ich habe gehört, es sind auch Kommunisten darunter«, sagte ich. »Also Vorsicht! Wäre es in Ordnung, wenn ich Fingerabdrücke nehme?«
»Fingerabdrücke?«, sagte Leon irritiert. »Die haben Finger?«
»Äh, nein«, sagte ich. »Na ja, vielleicht. Nicht von den Papageien. Aus der Wohnung.«
»Oh«, sagte Leon. »Klar. Bitte sehr.«
Ich kramte ein schwarzes Lederetui von der Größe eines Taschenkalenders aus meiner Handtasche. Ich legte es auf den Sofatisch und holte ein kleines Fläschchen mit schwarzem Pulver, einen Kamelhaarpinsel und einen kleinen Block mit Klebestreifen heraus, die einen weißen, kartonierten Rücken hatten.
Zunächst brauchte ich einen Kontrollabdruck von Vic Willing. Vermutlich hätte ich online fündig werden können,
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