Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
immerhin mussten Anwälte in den meisten Bundesstaaten einen Fingerabdruck bei der einen oder anderen Sicherheitsbehörde hinterlegen. Aber da kein internetfähiger Computer in der Nähe war und sich die Prozedur ohnehin mühevoll gestaltet hätte, benutzte ich Vics Zahn- und Haarbürste. Ich trug sie zum Sofatisch, wobei ich darauf achtete, sie nur mit meinen Fingernägeln zu berühren, und bestäubte sie mit dem schwarzen Puder. Unter dem Staub blühten die Fingerabdrücke auf wie Rosen. Ich rupfte ein paar Blätter von meinem Klebeblock ab. Vorsichtig zog ich die transparente Folie von der weißen Pappe ab und presste sie auf den Griff der Haarbürste, bevor ich sie zurück auf die Pappe drückte. Viele verschmierte Flecken und ein makelloser Abdruck. Ich wiederholte den Vorgang an der Zahnbürste und sicherte einen zweiten perfekten Abdruck.
Dann nahm ich Abdrücke von jenen Gegenständen in der Wohnung, die ein Besucher höchstwahrscheinlich berührt hätte, und beschriftete sie entsprechend. Türknäufe. Die Küchenschränke. Der Safe. Das Fernsehgerät – erstaunlich, wie viele Mörder vor oder nach der Tat den Fernseher einschalten! Und das Vogelhäuschen. Zum Schluss steckte ich alle Pappestückchen in einen Umschlag und den Umschlag in meine Handtasche.
Mich beschlich das Gefühl, dass es in der Wohnung noch etwas zu entdecken gab. Vic hatte etwas zu verbergen. Die Leute verstecken Dinge bei sich zu Hause, Dinge, von denen sie sich nicht trennen, die sie aber genauso wenig mit sich herumtragen können. Immaterielle Dinge, aber dennoch vorhanden. Jeder Ort war von etwas heimgesucht. Manchmal von der Vergangenheit oder Zukunft, manchmal von der Gegenwart.
Ich ging ins Schlafzimmer, knipste das Licht aus und legte mich in Vics Bett. Die Laken waren frisch, vermutlich gestärkt, und nicht sonderlich bequem. Ich verlangsamte meine Atmung und ließ meine Gedanken auslaufen, bis ich fast eingeschlafen war.
Dann setzte ich mich ruckartig auf und stieg aus dem Bett. Ich hatte keine Ruhe, keine Entspannung gefühlt, sondern einen inneren Kampf.
Vic hatte mit sich gerungen. So wie die meisten von uns. Das war unschön, aber als Hinweis taugte es wenig.
Ich bat Leon, die Schlüssel behalten zu dürfen, um mich nötigenfalls noch einmal in der Wohnung umzusehen.
Er lehnte ab.
»Ich habe nur diesen einen Satz«, erklärte er und scharrte mit den Füßen. »Nicht, dass ich Ihnen nicht vertrauen würde …«, fügte er hinzu.
»Aber Sie vertrauen mir einfach nicht«, ergänzte ich.
Er druckste herum, bis ich ihn vom Haken ließ.
»Schon okay«, log ich, »so was braucht Zeit.«
»Klar«, sagte er, »das kommt noch.«
Auch er hatte gelogen.
7
C onstance Darling war eine ungewöhnliche Lehrerin gewesen. In mondlosen Nächten setzte sie mich in den Sümpfen aus, und ich musste allein und nur mit der Hilfe des Windes und der Sterne den Weg nach Hause finden. Sie warf einen Zeitungsausschnitt von 1973 über einen Mord in Manhattan auf meinen Schreibtisch und befahl mir, den Fall aufzuklären. Sie lehrte mich, Fingerabdrücke zu deuten wie Kaffeesatz und Blicke zu lesen wie Landkarten. Sie lehrte mich, Ärger im übertragenen wie im wörtlichen Sinn zu riechen. Sie schickte mich zu Lamas und Tulkus, zu Swamis und Sehern. Wie die meisten Detektive hörte sie den Polizeifunk ab, und wenn wir nichts zu tun hatten, fuhren wir zum Tatort und klärten den Fall auf, noch bevor das NOPD zur Stelle war. Nicht, dass unsere Hilfe erwünscht gewesen wäre. Meistens ignorierte man uns. Aber Constance lag immer richtig.
»Es gibt zwei Arten von Detektiven«, hatte sie mir vor langer Zeit erklärt. Wir saßen in der Bibliothek ihrer Villa im Garden District. »Die einen haben irgendwann beschlossen, als Detektiv zu arbeiten. Die anderen haben keine Wahl.«
Wir alle werden auf unterschiedliche Arten berufen, erklärte sie. Manche haben einen Traum, andere sehen ein Omen, andere erinnern sich an einen besonderen, einschneidenden Moment – eine Nahtoderfahrung, ein Herzinfarkt, der Tod eines Angehörigen. Und danach weiß man, man muss seinem Herzen folgen und eine Detektei eröffnen. Egal, ob man fünfzehn ist oder fünfzig – wenn die Berufung zuschlägt, muss man ihr folgen.
Constance war Detektivin von Geburt an. Ich hätte dasselbe gern über mich gesagt, dabei war mein Weg vom kleinen Mädchen mit Fingerabdruck-Experimentierkasten bis zur Mitgliedschaft im Berufsverband der Privatdetektive lang und steinig
Weitere Kostenlose Bücher