Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
gewesen.
Ich war elf oder zwölf Jahre alt, als meine beste Freundin Tracy den offiziellen Cynthia Silverton Experimentierkasten für kleine Detektivinnen geschenkt bekam. Als wir den Kasten erblickten, passierte etwas mit uns; es war wie bei einem Déjà-vu, als ein ungeahnter Schauer der Erkenntnis uns durchströmte.
Zusammen mit unserer Freundin Kelly sicherten wir wochenlang Fingerabdrücke von sämtlichen Oberflächen in meinem riesigen, verfallenden Brooklyner Elternhaus, sogar im Südflügel, der eigentlich wegen eines Lochs im Dach abgesperrt war. Kelly lebte mit ihren Eltern in einer engen Wohnung, Tracy bei ihrem Vater im sozialen Wohnungsbau gegenüber. In meinem Haus gab es mehr zu erkunden.
Der Einbruch in den Südflügel lieferte uns einen ersten Vorgeschmack auf Kriminalität, die Zwillingsschwester der Detektivarbeit.
Tracy, eine geborene Verbrecherin, hatte es irgendwie geschafft, das seit Jahren vor sich hinrostende Schloss zu knacken. Wir schnappten nach Luft, als die Tür sich öffnete und den Blick auf das kaputte, sonnenüberflutete Parkett und die morschen Möbel freigab. Tauben hatten sich hier eingenistet, aber als ich die Tür aufdrückte, flatterten sie nicht auf, sondern starrten uns an. Was wollt ihr hier? Wenige Minuten zuvor hatten meine Eltern uns mit demselben Blick bedacht, als wir durch das Wohnzimmer getobt waren, wo sie mit ihrem »Berater« Dr. Oliver am Ouijabrett saßen. Bald kommt Geld herein, versprach der Doktor wie üblich. Ich kann einen unverhofften Geldregen sehen!
Im Südflügel aber waren meine Eltern und der Rest der Welt meilenweit entfernt. Wir schlichen vorsichtig und lautlos herum. Uns fehlten die Worte dafür, aber wir konnten es fühlen: einen Druckabfall, einen Geruch, ein Beben der Nadis, das Aufspringen einer inneren Tür.
Hier lag ein Geheimnis verborgen.
Ich legte das Fingerabdruckset beiseite und prüfte jedes Dielenbrett mit den Händen, bevor wir es betraten. So krochen wir durchs Zimmer. Die Tauben schauten gurrend zu, wie wir unter die Bettlaken linsten, die man über die Möbel gebreitet hatte, und vorsichtig die Schränke voll angeschlagenem Porzellan und sich auflösender Leinentücher öffneten. Soweit ich erkennen konnte, glich der Südflügel dem Rest des Hauses, verstaubt und vollgestopft mit altem Krempel.
Nur Tracy wusste es besser. Tracy brachte genug Mut auf und kroch an den Fußleisten entlang, um das morsche und brüchige Parkett in der Mitte zu vermeiden. Tracy entdeckte den Speisenaufzug am hinteren Saalende. Tracy stemmte die verrostete Klappe auf, Tracy zog an den uralten, seit Jahrzehnten nicht bewegten Seilen. Tracy entdeckte das Geheimnis.
Im Speisenaufzug lag eine Ausgabe von Silettes Détection , so als hätte sie auf uns gewartet.
Drei Jahre später verschwand Tracy. Kelly und ich waren die Letzten, die sie gesehen hatten. Niemand sah Tracy jemals wieder.
Wo immer sie hingegangen, was immer ihr zugestoßen war, sie hatte unsere Ausgabe von Détection mitgenommen.
8
A ls ich zurück im Hotel war, knipste ich alle Lampen im Badezimmer an, dem hellsten Ort. Ich breitete einen einigermaßen sauberen Kopfkissenbezug auf einem Brett aus, das ich auf der Straße gefunden hatte, und plazierte es über dem Waschbecken wie eine Tischplatte. Links legte ich einen sauberen, fast kompletten Kontrollabdruck von Vics Fingern hin, rechts davon einen der Abdrücke, die ich in der Wohnung gefunden hatte. Ich untersuchte beide Abdrücke mit der Lupe. Sie stimmten überein. Ich wählte einen zweiten Abdruck und verglich erneut. Ebenfalls übereinstimmend. Noch einmal – Übereinstimmung. Und noch einmal – keine Übereinstimmung.
Ich war mir dennoch sicher, dass es sich um einen Abdruck von Vics linker Hand handelte – dieselbe Größe, der gleiche, weit nach unten gerutschte Wertschätzungswirbel. Ich machte mir eine Notiz und legte den Abdruck beiseite. Ein neuer Abdruck – wieder eine Übereinstimmung. Abdruck – Übereinstimmung.
Fünfzehn Proben später entdeckte ich einen Abdruck, der zu keiner von Vics Händen passte. Er war groß und stammte vermutlich von einem Mann. »UNBEKANNTER«, beschriftete ich ihn.
Ich ging die restlichen Abdrücke durch. Die meisten waren verschmiert und wertlos. Wahrscheinlich hatten verschiedene Besucher Vics Wohnung aufgesucht, aber immer nur kurz und keinesfalls kürzlich. Sie hatten die Wohnungstür berührt und kaum mehr. Der Unbekannte hingegen hatte alle Küchenschränke geöffnet.
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