Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
Polizeicomputer laufen zu lassen.
Der Unbekannte war der Polizei bestens, allerbestens bekannt: Andray Fairview, unglücklicher Träger eines falsch geschriebenen Vornamens, verfügte über ein langes Vorstrafenregister und über eine noch längere Jugendakte. Die eigentlich unter Verschluss lag, aber problemlos einzusehen war, wenn man Claire DeWitt hieß, beste Privatdetektivin der Welt. Fairview war zurzeit Bewohner des Orleans Parish Prison. Ein Gerichtsverfahren wegen Drogenbesitzes stand bevor. Man hatte ihn ausgerechnet gestern Nachmittag verhaftet. Mein Pech.
Ich druckte alles aus, was ich über Andray Fairview in Erfahrung bringen konnte, seinen ganzen langen, traurigen, öffentlichen Lebenslauf. Andray Fairview, das gibt einen Eintrag in Ihre Strafakte. Ich überflog die Dokumente, wie sie aus dem Drucker kamen. Andrays Mutter war die Stadtverwaltung, sein Vater die Bundesbehörde. Viele Verhaftungen, die meisten wegen Drogenbesitzes und Drogenhandels, manche wegen Diebstahls, wenige wegen Körperverletzung und jede Menge wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Die Schulakte war beinahe leer, und das wenige, das sich darin finden ließ, klang jämmerlich. Zwei fallengelassene Anklagen wegen Mordes. Das ließe sich in Kürze richtigstellen.
Als ich die Blätter zusammenschob und einheftete, entdeckte ich ein Bild von Andray Fairview. Ich ließ das Papier fallen.
Er war der Junge, der gegen mein Auto gepinkelt hatte. Der Selbstmordjunge.
»Es gibt keine Zufälle«, schrieb Silette. »Nur ungelöste Rätsel, unerkannte Hinweise. Die meisten Menschen sind taub für den Gesang des Vogels, blind für das Blatt auf dem Weg, sie denken sich nichts dabei, wenn die Nadel an immer derselben Stelle der Schallplatte springt oder ein Fremder am Telefon ist. Sie übersehen die Omen. Sie wissen die Zeichen nicht zu deuten. Für sie stellt sich das Leben als Buch mit lauter weißen Seiten dar. In den Augen des Detektivs hingegen ist es gefüllt mit einer leuchtenden, geheimnisvollen Schrift.«
9
D étection wurde schon lange nicht mehr verlegt und war so gut wie unauffindbar. Ich kaufte jede Ausgabe, die ich in Ramschläden und Antiquariaten fand, deren Betreiber nicht wussten, was sie da besaßen. Ein Exemplar hatte ich mit nach New Orleans genommen. Ich war abergläubisch und verreiste nie ohne das Buch, obwohl ich es auswendig konnte.
Détection war unerträglich. Das Buch ist für seine Unverständlichkeit berüchtigt. Es ist teilweise sinnlos, immer widersprüchlich. Es reitet auf dem Schlechten herum und unterschlägt das Gute, und nie bekommt man gesagt, was man gerne hören möchte. Es entzieht sich immer ganz knapp.
Daran hatte ich erkannt, dass es die Wahrheit sagte.
Bei dem Buch, das Tracy im Haus meiner Eltern gefunden hatte, handelte es sich um die US-amerikanische Erstausgabe, ein billiges, gelbes Taschenbuch mit Silettes Porträt auf dem Umschlag. Er schaut mürrisch drein und trägt einen schwarzen Anzug. Seltsamerweise hatte der Verlag beschlossen, es im Rahmen einer Krimireihe zu veröffentlichen. Ein echter Einblick in die AUFREGENDE Gedankenwelt von Frankreichs führendem Kriminalisten! Nichts war der Wahrheit ferner. Es sei denn, man definierte AUFREGEND als: »Wie aufregend, wenn man nach der Lektüre nicht einmal ahnt, worum es geht!« Aufregend in der Art.
Wenn man Silette einmal gelesen hat, gibt es kein Zurück mehr, heißt es. Etwas verändert sich, und man ist nie wieder derselbe Mensch. Wie sehr man sich auch wünscht, das Gelesene zu vergessen – es gelingt einfach nicht.
Wenn man die Wahrheit erfahren hat, gibt es keine zweite Chance. Keine Nachbesserung, keine Korrekturen, keine Umkehr. Die Tür fällt zu, das Schloss rastet ein.
In den Monaten nach dem Buchfund im Speisenaufzug teilten Kelly, Tracy und ich uns Détection. Wir lasen etappenweise und reichten das Buch herum, bis wir es praktisch auswendig konnten. Wir lasen in dem kleinen, gelben Taschenbuch, bis der Rücken brach, die spröden, vergilbten Seiten einrissen und der Umschlag abfiel.
Wir verstanden so gut wie nichts davon. Was uns nicht daran hinderte, das Buch zu lieben.
Détection war eine Tür zu einer anderen Welt; einer Welt, deren Wahrheiten wir nicht verstanden, von der wir aber glaubten, dass wir sie irgendwann verstehen könnten. Eine Welt, deren Bewohner aufmerksam waren, zuhörten, nach Anhaltspunkten forschten. Die Welt der lösbaren Rätsel. Wenigstens glaubten wir das.
Als wir begriffen, dass wir uns
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