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Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Titel: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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Akzent war so stark, dass ich in Gedanken simultanübersetzen musste. Sie sah wirklich krank aus. Sie wirkte matt, ihr Haar war glanzlos und voller Spliss. In Westchester hätte sie dreißig verschiedene Medikamente und drei Arten Therapie bekommen. Hier bekam sie nur ein eingeknicktes Haus.
    Ich fragte sie, ob sie sich erinnern könne, Andray an jenem Abend gesehen zu haben.
    »Keine Ahnung«, sagte sie, ohne mich anzublicken. »Andray? Scheiße, den habe ich ja seit, ich weiß auch nicht, seit wann nicht mehr gesehen. Ist lange her. Während dem Sturm? Terrell. Den hab ich gesehen. Terrell und Trey. Und Peanut auch. Die habe ich gesehen.«
    Ich schwang mich auf die Veranda und setzte mich neben sie.
    »Möglicherweise steckt Andray in Schwierigkeiten«, erklärte ich. »Vielleicht bist du sein einziges Alibi.«
    Sie lachte. Es klang so, als gäbe es nichts zu lachen und hätte es auch nie gegeben.
    »Andray«, sagte sie, » der Penner.«
    Der Junge griff in seinen Hosenbund und zog eine .44er Magnum heraus. Ich beobachtete ihn. Er richtete die Waffe nicht auf mich oder Lali. Er zielte auf den Baum. Lali schien es nicht zu bemerken.
    »Scheiße«, sagte sie, »ich kann mich an nichts erinnern. Das war das reinste Chaos. Ich kann mich nicht erinnern, Andray irgendwo gesehen zu haben.«
    »Ich bin nicht von der Polizei«, sagte ich. »Ich versuche, Andray aus dem Knast rauszuhalten, nicht, ihn reinzubringen.«
    Ich erklärte ihr die Lage noch einmal. Sie hörte gar nicht zu. Sie nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blies mir den Qualm ins Gesicht. Er roch säuerlich und beißend.
    »Was ist das überhaupt?«, fragte ich.
    Der Junge schoss in den Baum.
    Lali und ich zuckten zusammen. Als das Projektil den Stamm traf, kam ein Haufen Kreaturen aus dem Laub geschossen. Eichhörnchen flüchteten panisch über die Straße, Tauben stoben in Todesangst davon. Der Junge wurde vom Rückstoß nach hinten gerissen, und ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.
    Ich langte hinüber und nahm ihm die Magnum weg.
    »Scheiße«, sagte er, »ich brauche die!«
    Er sah mich an. Er sah verängstigt aus. Ich gab ihm die Waffe zurück.
    »Die Penner haben mich ausgelacht«, sagte er.
    »Die Penner im Baum?«
    Er nickte.
    »Vielleicht«, sagte ich, »haben sie bloß gelacht?«
    Der Junge legte die Stirn in Falten, während er die Wahrscheinlichkeiten abwägte.
    Ich kritzelte meine Telefonnummer auf einen Zettel und gab ihn Lali.
    »Ruf mich an«, sagte ich, »bitte. Falls du dich an irgendwas erinnerst.«
    Ich gab ihr und dem Jungen jeweils fünf Zwanziger. Der Junge lachte und sah für eine Sekunde ganz zufrieden aus. Lali faltete die Scheine zusammen und steckte sie ein, ohne hinzusehen.
    Bevor ich wieder in mein Auto stieg, drehte ich mich noch einmal nach ihr um. Sie sah mich und zog den Zettel mit meiner Telefonnummer aus der Hosentasche. Ihr Blick war leer. Es war, als wäre keiner zu Hause.
    Sie knüllte den Zettel zu einer Kugel zusammen und warf ihn in den Baum. Der Junge zückte die Pistole und schoss darauf.
    So viel zu Andrays Alibi. Ich stieg in den Truck und fuhr an die Stelle zurück, wo ich den Kranwagen gesehen hatte. Er war weg, aber die Dinger fuhren selbst mit Rückenwind kaum schneller als sechzig Sachen. Er konnte nicht weit sein.
    Ich zog große Achten und kreuzte immer wieder die Dryades Avenue, Hauptverkehrsader des Viertels und ganz in der Nähe des geografischen Stadtzentrums. Central City lag im Herzen der Übergangszone. Früher war die Dryades eine belebte Geschäftsstraße gewesen, wo Schwarze, Juden, Asiaten und alle anderen einkaufen gingen, die für die Canal Street nicht weiß genug waren. Jetzt war es kaum noch zu glauben. Fast alle Schaufenster waren eingeschlagen oder mit Brettern vernagelt. Auf der ganzen, langgezogenen Straße hatten nur eine Filiale der Credit Union, ein verdreckter Gemüseladen und ein paar Galerien geöffnet, deren Betreiber von den niedrigen Mieten angelockt worden waren, dazu alptraumhafte Kindergärten und Einrichtungen mit Namen wie STARKE GEMEINDE! und AUFWÄRTS! und LEBENSMITTEL-HILFSPROGRAMM. Vor Letzterer hatte sich eine lange Schlange gebildet, die sich bis zur nächsten Kreuzung und um die Hausecke schlängelte und aus bemüht geduldigen Männern, Frauen und Kindern bestand. Es ist nicht leicht, geduldig zu sein, wenn man Hunger hat. Die Jungen hingen zu dritt, zu viert oder fünft an den Straßenecken herum, und Leute in protzigen Autos hielten an, um

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