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Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Titel: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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Platten aufgenommen hatten. Andray summte mit, er sang in der für mich rätselhaften Sprache der Schwarzen Indianer.
    »Du verstehst den Text?«, fragte ich Andray, als das Lied vorbei war. »Du weißt, was er bedeutet?«
    »Irgendwie schon«, sagte er. Seine Lippen verzogen sich zu einem winzigen Lächeln. »Mein Onkel war bei den White Hawks.«
    »Das gibt’s ja nicht«, sagte ich. »Hat er das selbst gesungen?«
    Andray zuckte die Achseln. »Kann sein. Er ist vor langer Zeit gestorben. Im Jahr 2004. Ich habe zeitweilig bei ihm gewohnt.«
    »Wo war das?«, fragte ich und gab ihm den Joint zurück.
    »Annunciation Street«, sagte Andray. »Er war wirklich nett. Und seine Freundin Aqualia erst! Die konnte echt gut kochen. Ich war oft da. Er hat bei Hubig’s gearbeitet, Sie wissen schon, der Pastetenladen?« Ich nickte. Hubig’s Pasteten waren einzeln abgepackte, gefüllte Teigtaschen, die nach Chemie schmeckten und fast überall in New Orleans verkauft wurden.
    »Eines Abends kam er nach Hause«, sagte Andray mit zitternder Stimme, »und war … er war …«
    Er ließ die Seitenscheibe herunter und spuckte aus dem Fenster. Ich sagte nichts.
    Nach ein paar Minuten drehte Andray sich wieder zu mir um.
    »Er hat immer diesen Spruch zitiert«, sagte Andray. »›Die Toten soll man ruhen lassen‹, hat er gesagt, ›Lass die Toten ihren Weg allein gehen‹.«
    »Es heißt: Lass die Toten ihre Toten begraben «, sagte ich. »Es steht in der Bibel.«
    Andray runzelte die Stirn.
    »Mein Onkel hat immer gesagt, es gibt zwei Bibeln«, sagte er. »Oder nur eine, aber die wurde geteilt. Er hat gesagt, die eine Hälfte steht auf dem Papier. Die andere Hälfte steckt in den Menschen. Man wird damit geboren, aber rausfinden muss man es selbst. Man muss lernen, es in sich zu finden. Anders geht es nicht.«
    »Dein Onkel war ein weiser Mann«, sagte ich.
    »Ja, das war er«, stimmte Andray nickend zu. »Das war er. Er wusste auch, was passieren würde. Er hat immer gesagt: ›Keine Rache. Was immer auch geschieht, ich nehme es mit ins Grab. Sollen die Toten sich drum kümmern. Die haben ihre eigenen Probleme. Indianer kämpfen nicht mit Messern und Pistolen. Sie haben ihre Kostüme und ihre Lieder.‹ Als er starb, wollte ich, na ja, Sie wissen schon. Aber ich wusste, was er wollte, und deswegen …« Er zuckte die Achseln. Ihm waren die Hände gebunden.
    Der Joint wanderte hin und her. Der Mond stand tief am Himmel, und mit jedem Zug schien er anzuschwellen und weiter herabzusinken, bis er dicht über dem Auto hing. Wir starrten ihn an.
    »Sehen Sie das?«, fragte Andray lächelnd.
    »Klar«, sagte ich.
    Wir rauchten den Joint und schauten zu, wie der Mond herabsank und sein weißes Licht über uns ergoss wie ein Geschenk. Bald war er so dicht, dass er uns ganz und gar bedeckte und alles ausblendete außer seinen gelbweißen Körper.
    »Siehst du das?«, fragte ich.
    »Klar«, sagte Andray. »Das ist echt der Wahnsinn.«
    Ich wusste nicht, ob wir vom selben Wahnsinn sprachen. Ich merkte, wie mir die Lider herunterklappten.
    Als ich aufwachte, stellte ich überrascht fest, dass Andray sich umgezogen hatte. Er war in voller Indianermontur, eine Mischung aus Las-Vegas-Showgirl und Buffalo Bill. Andray trug einen riesigen Kopfschmuck aus Federn und einen schrillen, leuchtend grünen Anzug, der mit ebenso grünen Perlen und Pailletten besetzt war. Er rauchte eine von den braunen Zigaretten und beobachtete mich in aller Seelenruhe. Als er die Beine übereinanderschlug, knisterten und knackten die Perlen und Pailletten. Er atmete ein Meer aus Qualm aus.
    Von draußen hörte ich Trommeln und Tamburine und Blechbläser. Ich schaute gerade noch rechtzeitig aus dem Fenster, um die St.-Anne-Parade vorbeiziehen zu sehen – die Societé de Sainte Anne, wie Constance sie nannte.
    Mein Blick stellte sich scharf und fokussierte zwei Frauen, die an einer Straßenecke standen und den Umzug beobachteten. Beide trugen ein Kostüm. Die ältere stellte Marie Antoinette dar, die jüngere war eine Vertreterin des niederen französischen Landadels.
    Ich zitterte vor Kälte.
    »Stillhalten!«, zischte Constance.
    »Ich kriege kaum Luft«, jammerte ich, »und mir ist eiskalt.«
    Constance schüttelte den Kopf. »Psst«, sagte sie.
    »Ist es an Mardi Gras immer so kalt?«, fragte ich und trat von einem Fuß auf den anderen. »Denn in dem Fall …«
    Constance packte mich am Arm und drehte mich zu sich um.
    »Weißt du eigentlich, zu welchem Zweck die

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