Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
den Mord im Blauen Zimmer in weniger als zehn Minuten auf. Mit dreißig löste er das Rätsel um den Mord im Wachsmuseum, der noch vor Jacks Geburt verübt worden war. Im Alter von fünfunddreißig befreite Jack Murray James »Slim« McNeil von dem Verdacht, für das Massaker in Abita Springs verantwortlich gewesen zu sein, und brachte stattdessen den wahren Schuldigen – McNeils eigenen Bruder! – hinter Gitter. Im Jahr 1979 musste sich jeder Detektiv an Murray messen lassen. Nicht weniger als fünf Mal zierte er das Cover des Detective Quarterly. Er war bereit für die Weltherrschaft – oder zumindest für die Herrschaft über diesen kleinen Teil der Welt.
Aber im Alter von vierzig Jahren entdeckte Jack Murray die Schriften von Jacques Silette. Alles änderte sich.
Ich hatte Interviews aus jener Zeit gelesen. Jack schien ehrlich erschüttert zu sein. Aus International Detection, 1988:
Frage: Wie haben die Schriften Silettes Ihre Herangehensweise an Kriminalfälle beeinflusst?
Murray (schweigt lange): Ich glaube, inzwischen bin ich mehr an der Enträtselung meiner eigenen Geheimnisse interessiert.
Kurze Zeit später begann Jack, alle vielversprechenden Fälle abzulehnen, die ihm angeboten wurden. Er verzichtete auf den Fall der Bagdad-Banditen, auf dessen Aufklärung fünfzigtausend Dollar ausgesetzt waren. Er versuchte nicht einmal herauszufinden, wer die Geliebte des Polizeichefs erschossen hatte. Und den Mord in der Rue Royale ignorierte er, obwohl ihn der Herausgeber der Times Picayune persönlich um Hilfe bat.
Stattdessen schien er sich nur noch auf möglichst unlukrative Angebote einzulassen, allesamt unbezahlt. Er verbrachte Monate damit, den Mord an einem Obdachlosen an den Bahngeleisen in Metairie aufzuklären. Er entlarvte einen Serienkiller, der sich seine Opfer jahrelang unter den Prostituierten der Stadt gesucht hatte. Niemand interessierte sich für Obdachlose und Prostituierte, höchstens die Opfer selbst.
Murray verdiente kein Geld, und nach etwa einem Jahr wurde er aus seiner Wohnung geworfen. Er fing an zu trinken. Alle wollten ihm helfen, Freunde, Kollegen, Angehörige. Er aber sagte immer wieder, nicht er sei es, der Hilfe benötige.
Nach mehreren Jahren auf der Straße machte ihn ein ehrgeiziger Redakteur des Journals für Silette-Studien für ein Interview ausfindig. Weil sich die Welt nicht für das Thema interessierte, wurde das Journal leider nach zwei Ausgaben eingestellt.
Frage: Was bedeutet es für Sie, nach Silette zu ermitteln?
Murray (überlegt): Es bedeutet, dass ich blind war. Heute kann ich sehen.
Frage: Und der Alkohol?
Murray: Tja. Manche Menschen sehen durch Glas besser.
Murray weigerte sich, weitere Fragen zu beantworten.
Ich hatte während meiner Zeit bei Constance von ihm gehört, wenn auch nicht von Constance selbst. Die älteren Detektive erwähnten seinen Namen nie; der klatschsüchtige Nachwuchs hingegen war fasziniert von ihm. Der brillante, zu einem Penner und Trinker heruntergekommene Detektiv. Ich hatte ihn für eine Legende gehalten. Ich wusste ja nicht, wie kompliziert das Leben spielen konnte. Und dann eines Tages stand er vor Constances Tür und drückte auf die Klingel.
Ich öffnete ihm, bedeutete ihm mit erhobenem Zeigefinger zu warten und machte mich auf in Constances Arbeitszimmer. »Constance«, sagte ich, »ich glaube, da …«
Aber sie war schon aufgestanden und zur Tür gegangen. Als er sie sah, fing der hünenhaft große Mann, der im Gesicht nicht weniger grau und schmutzig war als sein Lumpenmantel und sein kaputter Hut, breit zu grinsen an. Die beiden fielen sich in die Arme, und der Mann führte Constance im Walzerschritt über die Veranda.
Ich stand daneben und schaute zu, bis das Telefonklingeln mich ins Haus rief. In Constances riesigem Haus in der Prytania Street war immer etwas los. Am Vortag war Constances Meditationscoach Dorje da gewesen. Er hatte in seiner safrangelben Robe in der Küche gestanden und Pilztee gekocht. Am Tag davor hatten wir einen Deutschen Schäferhund verhört. Mit Constance wurde es nie langweilig.
Ich machte mich wieder an die Arbeit und sah Constance tagelang nicht. Bei unserer nächsten Begegnung fragte ich nach dem Mann an der Tür.
»Jack Murray«, antwortete sie. »Claire, wenn er das nächste Mal kommt, bittest du ihn herein oder gibst ihm Geld, wenn er welches möchte, ja?«
»Selbstverständlich«, sagte ich. Ich brannte vor Neugier, traute mich aber nicht, Fragen zu stellen.
»Jack hat
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