Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
einen Apfel. »Wenn die Leute endlich aufwachen würden, wäre es immer noch möglich.«
»Ich weiß nicht, was geplant war«, entgegnete ich, »aber ich finde, es ist ziemlich nah an der Hölle. Hör mal.«
Eine Sirene jagte am Haus vorbei, die fünfte an diesem Abend. Irgendwo in Uptown fand ein Straßenkrieg statt; vier Morde an drei Tagen.
Constance lächelte. »Claire, eines kannst du mir glauben: Wenn du in die Hölle kommst, wirst du es merken. Es ist dort beispielsweise sehr viel wärmer als hier. Und dunkler – dort gibt es keine Glühbirnen, wenigstens habe ich das gehört.«
Constance bekam eine Kugel in den Kopf, mitten in ihr drittes Auge. Ihr Tod machte mich zur besten Detektivin der Welt.
33
Z um Handwerk eines Detektivs gehört auch die Tarnung, und wie sehr viele detektivische Fertigkeiten gerät auch sie in Vergessenheit. Der durchschnittliche Möchtegerndetektiv von heute glaubt, es reiche aus, in einen Secondhand-Anzug zu steigen und sich die Haare schneiden zu lassen. Nein, das reicht nicht. Genauso wenig reicht es, sich Schminke ins Gesicht zu klatschen und eine Perücke aufzusetzen, obwohl gewisse Fähigkeiten auf dem Gebiet der Kostümierung sicher hilfreich sind. Aber sich zu tarnen bedeutet mehr als neue Kleidung und eine veränderte Gesichtsbehaarung. Soll eine Tarnung überzeugen, muss die Detektivin nicht nur anders aussehen, sondern sich tatsächlich für eine andere Person halten. Ihr Ego muss in der Lage sein, sich im Äther aufzulösen, damit sie das kollektive Unbewusste anzapfen und eine neue, durch und durch entwickelte Person hervorbringen kann, um sie für unbestimmte Zeit zu bewohnen. Sie muss sich gewissermaßen von dieser neuen, anderen Person besetzen lassen, egal, wie unsympathisch sie ihr ist. Aber das ist nicht die größte Herausforderung. Für die Detektivin besteht die größte Herausforderung nicht in der Aneignung der neuen Persönlichkeit, sondern im Loslassen der alten. Das eigene Selbst loszulassen ist die anspruchsvollste aller Aufgaben, und nur wenige werden ihr gerecht. Gleichzeitig strebt das Selbst, auch wenn es ihm nicht bewusst ist, genau danach.
Nachmittags fuhr ich zum Congo Square zurück. Diesmal war ich Elmyra Catalone, genesene Cracksüchtige mit italienischen und afrikanischen Wurzeln, geboren in Memphis, Tennessee, und von Baptisten getauft, Gelegenheitspfingstlerin, Gelegenheitsprostituierte, sexuell missbraucht vom Cousin und Mutter von vier Kindern, von denen eines gestorben, eines in der Obhut einer Pflegefamilie, eines in Angola und eines verheiratet und Vater von zwei Kindern in Celebration, Florida, war. Elmyra hatte Kokain und Crack entsagt, trank aber gern mal ein Gläschen und griff zum Schnaps, weil es so gesellig war.
Elmyra näherte sich dem Park ein wenig schüchtern. Sie war auf der Suche nach einer alten Freundin aus Tallahassee, die sich angeblich hier aufhielt. Ihre Freundin fand sie nicht, dafür aber offenbar einen Ort, an dem man einen Schluck trinken konnte, ohne gleich Ärger zu bekommen. Wenn Elmyra von irgendwas im Leben genug hatte, dann von Ärger. Sie zog eine kleine Flasche Pfefferminzschnaps aus ihrer Plastiktüte, nahm einen kräftigen Schluck und suchte sich eine freie Bank. Elmyra trank ihren Schnaps, um sich aufzuwärmen, und wartete auf ihre Freundin.
Die Männer am Picknicktisch waren unfreundlich zu Elmyra.
»Sieh mal, schon wieder diese weiße Nutte von eben, nur mit dreckigen Klamotten.«
»Hat sich was ins Gesicht geschmiert und denkt, wir würden es nicht merken.«
»Nutte.«
»Blöde Sau.«
»Weiße Nutte.«
Jack Murray schwieg.
Ich trank einen Schluck Schnaps, warf meine Perücke in den Mülleimer und ging. Auf dem Weg zu meinem Truck sah ich Leon in der North Rampart aus einem Plattenladen kommen. Ich wollte ihm aus dem Weg gehen, aber er wurde auf mich aufmerksam, weil die Fernbedienung meiner Zentralverriegelung ohrenbetäubend laut war.
»Claire?«, fragte er. »Sind Sie das?«
Wir plauderten. Er erkundigte sich nach meinen Fortschritten. Ich log ihn an und sagte, es laufe prima.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Klar«, sagte ich. »Danke der Nachfrage.«
Leon machte einen seltsam verwirrten Eindruck. Als ich ins Hotel kam, fiel mir auf, dass ich noch Elmyras Klamotten trug, die ich teilweise in einem Ramschladen gekauft und teilweise im Müll gefunden hatte. Außerdem hatte ich mich vor meinem Gang in den Park mit Schnaps eingerieben, des
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