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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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Gefühle drängte sich dicht unter der Oberfläche, jetzt spürte er es deutlich, und er drängte danach, entfesselt zu werden. Aber noch blinzelte er nur in das Licht, das ins Gesicht seines Vaters fiel.
    Er hörte Röcke rascheln. Benedikta stand neben ihnen. Sie ergriff Marks rechte Hand, und mit ihrer linken nahm sie die rechte Hand seines Vaters. Dann führte sie die beiden Hände behutsam zusammen und trat zur Seite.
    Mark umklammerte die Hand seines Vaters. Sie war warm und sehr real. Dann drückte er sie, fester und immer fester. Seine Augen verschwammen. Und dann zog er den Mann an sich.
    Er spürte, wie die Tränen über ihre Gesichter rannen, als wollten sie nie wieder versiegen. Er fühlte seinen stockenden, schluchzenden Atem. Er spürte, wie sich alles in ihm vor Trauer und Reue zusammenzog.
    Er spürte die Wärme der Umarmung seines Vaters.
    Und das war etwas wert.

 
KAPITEL 24
     
Der Direktor
     
    Die Türen des Direktoriums waren riesig – zwei gewaltige Flügel aus uraltem Eichenholz, die mit barocken Darstellungen aller zwölf Tierkreiszeichen verziert waren. Ganz oben war die mit Blattgold hervorgehobene Waage zu sehen. Rings um die Türflügel hielten Engelsfiguren Schriftrollen aus reinweißem Stein, die sich bis über die Säulen, auf denen die Engel standen, ergossen und die grauen Wände berührten. Über dem Tor erhoben sich die Türme, bohrten sich in den bedeckten Morgenhimmel, wo ihre Spitzen schließlich den Blicken entschwanden. Es war atemberaubend. Nicht einmal das Gerichtsgebäude konnte sich mit dieser Pracht messen.
    Der Platz davor war fast menschenleer. Diejenigen, die vorüberliefen, duckten die Gesichter tief in ihre Mantelkragen und hielten die Augen auf den Boden gerichtet. Sogar die Eintreiber schienen diesen Ort nur mit großer Scheu zu passieren, als glänzten diese Türen wie die Sonne und würden die Augen derer verbrennen, die ihrer Pracht zu nahe kamen. Nur Lily sah unerschrocken hin. Sie hielt das Schriftstück mit dem Audienztermin fest in der Hand und hatte den geliehenen Mantel eng um die Schultern gezogen. Das gewaltige Bauwerk starrte zurück, es dominierte den gesamten Platz und füllte auch fast den ganzen Himmel.
    Lily drehte sich zu ihrem Begleiter um. Auch Laud hatte die Augen nicht niedergeschlagen. Er stand mit gestrafften Schultern da und sah das Direktorium mit fest zusammengepressten Kiefern an, als könnte sein Blick den Marmor aufplatzen und zerschmelzen lassen. Seine Augen bewegten sich nicht einmal, als sie sich neben ihn stellte.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Lily zögerlich. »Du hättest nicht mitkommen müssen.«
    »Ich kann dich ja wohl schlecht allein gehen lassen«, erwiderte Laud mit gepresster Stimme. »Nicht an diesen Ort. Benedikta wollte auch mitkommen, und wenn es nicht so ausgesehen hätte, als würde Mark heute aus seinem Delirium erwachen, hätte ich es ihr nicht verwehren können.« Er lächelte amüsiert. »Zum ersten Mal seit langer Zeit macht mich etwas, das Mark tut, glücklich.«
    Lily schaute wieder zum Empfangsdirektorium hinauf. Jetzt erkannte sie, warum die Passanten ihren Blick abwandten. Je länger sie hinsah, desto größer kam es ihr vor, als würde es sich immer weiter in den Vordergrund schieben und ihr so seine Bedeutung aufzwingen. Es drückte sich dem Betrachter in die Augen wie der Stempel eines Siegelrings.
    Verstört wandte sie sich ab.
    »Was die Legenden auch behaupten, Laud: Es ist nur ein Gebäude.« Lily war sich nicht ganz sicher, wen sie damit zu überzeugen versuchte. »Oder glaubst du wirklich, dass es Leute einfach verschwinden lassen kann?« Sie versuchte sich an einem Lächeln. »Das ist doch unmöglich …«
    »Es kommt vor«, sagte er kalt. »Mit unseren Eltern ist es jedenfalls so geschehen.«
    Lily wich erschrocken zurück und hob die Hand zum Mund. Ihre erzwungene Fröhlichkeit blieb ihr im Hals stecken, und sie brachte kein Wort mehr heraus. Schließlich war es Laud, der das Schweigen brach.
    »Zehn Jahre«, sagte er. »So alt war Benedikta, als unsere Eltern durch diese Tür gingen. Besondere Schulden, sagten sie. Wir haben in sämtlichen Gefängnissen der Stadt nach ihnen gesucht, konnten sie aber nicht finden. Wir haben nie geweint. Dafür war keine Zeit. Wir mussten uns um Ben kümmern; sie als unser Eigentum registrieren lassen.« Laud verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ich war dreizehn und schon ein Vater für meine Schwester.« Laud ging weiter, ohne Lily anzusehen. »Ich

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