Die Stadt der verkauften Traeume
gibt es keine Eintreiber, nur Dämonen. Dämonen kann man vertrauen.«
Er wollte es sich zwar nicht eingestehen, doch die Tatsache, dass es im Turm keine Eintreiber gab, war ebenfalls ein Grund, dass er sich dort sicher fühlte. Die Eintreiber kamen nicht oft in die Elendsviertel, aber wenn, dann nahmen sie jedes Mal jemanden mit, jemanden, der es nicht geschafft hatte, seine Schulden zu bezahlen, oder der geschummelt hatte oder – schlimmer noch – gestohlen. Wenn die mitternachtsblauen Uniformen auftauchten, fingen alle Kinder an zu weinen und versteckten sich irgendwo, von wo aus sie dann zugleich entsetzt und fasziniert zusahen, wie eine weitere Familie von behandschuhten Händen auseinandergerissen wurde, während ein Inspektor alles überwachte und dabei seinen Bericht anfertigte. Die Erwachsenen hatten natürlich ständig mit den Eintreibern zu tun. Alle Verträge wurden ihnen zur Eintragung vorgelegt, und als Vertreter des Empfangsdirektoriums setzten sie sie für die, die nicht schreiben konnten, sogar auf. Sobald er besiegelt war, wurde jeder Vertrag mitgenommen, und nach angemessener Zeit überbrachte einem ein Eintreiber eine offizielle Empfangsbestätigung. Einer von ihnen klopfte einmal in der Woche am Turm an, um einzusammeln und auszuhändigen, aber Mark hielt sich immer verborgen, obwohl er sich dort völlig rechtmäßig aufhielt und auch keine Schulden hatte … Es hieß, die Eintreiber verkauften die Schuldner wieder an diejenigen, die sie betrogen hatten, wenn nötig auch stückchenweise, und ihre schrillen Pfeifen jagten ihm jedes Mal eiskalte Schauer über den Rücken.
Noch schlimmer war die Vorstellung, dass die unglücklichsten Schuldner vor den Empfangsdirektor, den Herrscher von Agora höchstselbst, gebracht wurden. Außer den Allerhöchsten der Stadt hatte ihn noch keiner gesehen, niemand wusste genau, wo er sich aufhielt, obwohl ihn mehrere einflussreiche Familien als zu sich gehörig beanspruchten. Mit Sicherheit ließ sich nur sagen, dass die, die das Direktorium betraten, für immer aus der Welt verschwanden. Angeblich besaß der Direktor ein großes Kassenbuch, in dem der Name eines jeden Bewohners von Agora stand. Es hieß, er könne das Leben eines jeden lesen, der darin namentlich verzeichnet war, und dass es, wenn er einen Namen mit einem Federstrich löschte, war, als hätte der Betreffende niemals existiert – sein Leben wurde vergessen, sein Ableben hinweggewischt.
All das erzählte er Lily, die daraufhin eine Augenbraue hob. »Du hast vor ziemlich vielem Angst, was?«, fragte sie trocken.
Danach wurde Marks Angst für den Rest des Nachmittags größtenteils von Verwirrung abgelöst. Er war doch nur vernünftig.
Trotzdem lernte er weiterhin mehr über die langweiligste Familie der Welt. Lily versicherte ihm, dass er schneller lesen lernte, als sie erwartet hatte. Trotzdem kam es ihm noch immer unerträglich langsam vor.
Bei einer Übungsstunde beschwerte Mark sich lautstark. »Da passiert ja überhaupt nichts! Die tun nichts weiter, als sich über ihr Leben zu beschweren, und hin und wieder stirbt mal einer oder wird wegen irgendwelcher Schulden verhaftet. Gibt es hier keine anderen Bücher? Ich mache auch das Esszimmer für dich sauber.«
»Nur, wenn du Interesse daran hast, in den Büchern des Doktors von Darminfektionen zu lesen oder dem Grafen eines seiner Bücher zu stehlen«, erwiderte Lily, ohne den Blick von der Seite zu heben. »Jedenfalls geht es hier um richtige Menschen, Menschen mit Ängsten und Hoffnungen. Du willst doch nicht behaupten, dass du dir niemals Sorgen um deine Zukunft machst?«
»Das Einzige, was mir Angst macht, sind Dinge, die ich schon gesehen habe«, entgegnete Mark prompt und sah zufrieden, wie Lilys Züge weicher wurden. Es war eine Art von Sieg.
Sie strich die Haare nach hinten, beugte sich über seine Schulter und zeigte auf die nächste Zeile. »Was steht da?«, fragte sie geduldig.
Mark verzog das Gesicht. »Meinst du wirklich, dass mir das was bringt?«, fragte er.
Lily nickte entschlossen, den Blick fest auf die Seite geheftet. »Die Stadt dort draußen ist riesengroß, Mark. Wie sollen wir etwas über sie erfahren, wenn wir anderen nicht erlauben, sich für uns dort umzusehen?« Nun hob sie den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich. »Willst du denn nicht über andere nachdenken? Willst du in diesem Turm bleiben und nichts von der Außenwelt wissen?«
Mark senkte den Blick. Es war lächerlich, aber er wollte sie nicht
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