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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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folgten der letzten Anweisung, noch ehe sein Kopf sie erfasst hatte. In den Befehlen des Grafen schwang eine schon ein ganzes Leben lang ausgeübte Autorität mit.
    Er ging nach unten in die Küche. Das Feuer war ausgegangen, Lilys Näharbeit lag noch da. Mark ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. Es war nun also so: nur noch sie beide in diesem riesigen, alten Gebäude.
    Er hatte noch nicht richtig darüber nachgedacht, was er davon halten sollte, da war er bereits eingeschlafen.

 
KAPITEL 4
     
Die Glasmacherin
     
    Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, aber Lily machte sich nichts daraus. Sie atmete tief ein. Sie war draußen. Die Mauern waren weg.
    Sie blickte zu Theophilus auf, aber der hatte sich schon hinter Mantel, Maske und Schutzbrille verborgen. Sie hatte nicht viel Zeit gehabt, seinen Gesichtsausdruck zu deuten, als sie ihm von der Abmachung zwischen ihr und Mark erzählt hatte, aber sie hatte nicht den Eindruck gehabt, dass er wütend darüber war. »Traurig« hätte es eher getroffen.
    Andererseits wirkte der Doktor häufig traurig, Lily hatte ihn nicht sehr oft gesehen, doch ihr war aufgefallen, dass sein Schritt von Tag zu Tag langsamer wurde, dass sich erste Anzeichen von Grau in sein braunes Haar schlichen, obwohl er nicht viel mehr als zwei volle Zyklen erlebt hatte – wie sie aus einem alten Tagebuch wusste, das sie in einem der unbenutzten Schlafzimmer gefunden hatte. Auch das Datum seines Eigentags war darin vermerkt gewesen: vor fünfzehn Jahren. Sein Eintrag hatte sich so stolz angehört.
    Lily hätte sich einen besseren Tag gewünscht, um die Stadt zu sehen. An dem Tag, als der Karren sie zum Turm gebracht hatte, hatte sie versucht, sich vorzustellen, wie die Welt draußen wohl aussehen mochte. Eingezwängt zwischen den Ballen aus altem Leinen, hatte sie dem Prasseln des Regens auf der Plane gelauscht, die sie zudeckte. Jetzt schaute sie sich um und spürte den gleichen öligen und fauligen Regen auf dem Gesicht, erblickte schmutzig graue Mauern und einen bleiernen Himmel. Trotzdem waren die Straßen rings um den Turm breit und sauber, ein Schild an der Wand teilte stolz mit, dass er zum wohlhabenden Zwillinge-Bezirk gehörte, der Stätte der Gelehrsamkeit.
    Lily hielt die Hand schützend über die Augen und sah sich um. Überall drängten sich Leute in solchen Mengen vorüber, dass sie kaum die Gebäude dahinter erkennen konnte. Als sie weitergingen, wurden die Menschenmassen jedoch noch lauter, die Geschäfte größer, und sogar das grobe Kopfsteinpflaster unter ihren Füßen wich glatten, ebenen Steinplatten. Vor ihnen erhob sich ein gewaltiger verzierter Bogen über der Menge.
    Und dann wurden die Straßen noch breiter.
    Selbst im Treiben des Winterregens und obwohl sie von den Horden vermummter Leute mal hierhin, mal dorthin gestoßen wurde, kam Lily der große Marktplatz geradezu atemberaubend vor. Der Fluss Ora, von den alten Städtebaumeistern geteilt, floss zu beiden Seiten um das kreisförmige Zentrum herum, und sein grünliches Wasser wurde an den Rändern des Platzes von zwölf Marmorbrücken überspannt, die unter zwölf riesigen Bögen hinweg jeweils in ein anderes Stadtviertel führten. Und in der Ferne, trotz der Düsternis stets sichtbar, ragten die Türme des Empfangsdirektoriums wuchtig und mächtig im Dunst empor. Lily hatte sie noch nie aus solch großer Nähe gesehen, doch musste ihr keiner sagen, worum es sich dabei handelte. Das Gebäude zwang dem Platz seine Übermacht auf, als ob seine Herrschaft über die Stadt in jeden Stein gedrungen sei.
    Gerne wäre sie länger stehen geblieben, hätte sich an einer der Hunderte kleiner Buden aufgehalten, die auf dem Platz aufgebaut waren und ihn mit einem Teppich von Waren überzogen. Wie gern hätte sie Mark all das gezeigt. Wie gern hätte sie ihm gezeigt, dass die Welt draußen nicht nur schrecklich war.
    Aber das war jetzt nicht möglich. Vielleicht sogar niemals.
    Sie wurde aus ihrem Tagtraum gerissen, als sie sah, dass Doktor Theophilus einfach weiterschritt, sich unbeirrt seinen Weg durch die Menge bahnte. Sie musste rennen, um ihn wieder einzuholen. Weiter gingen sie auf einen anderen Bogen auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes zu, in den eine seltsame Kreatur eingemeißelt war. Halb Mensch, halb Pferd, legte sie, leicht nach hinten geneigt, mit Pfeil und Bogen an, als wollte sie direkt ins Herz des Direktoriums schießen oder vielleicht sogar bis weit über die fernen Stadtmauern hinweg.
    Als sie unter

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