Die Stadt der verkauften Traeume
war kein Beweis. Sie musste mit ansehen, wie Pete in Handschellen aus dem Almosenhaus geführt wurde, sie war gezwungen zu lächeln und dem Inspektor zu danken, während vier Eintreiber als Wächter vor dem Haus stehen blieben, um weitere »Unerwünschte« fernzuhalten. Doch sie hörte nicht auf zu denken. Gloria musste noch woanders hingegangen sein, nachdem sie Pete um fünf Uhr getroffen hatte. Doch wohin genau? Wo würde sie bekommen, was sie brauchte?
Und während sie draußen vor dem Almosenhaus zusah, wie der von den Stiefeln der Eintreiber aufgewirbelte Staub sich wieder auf das Kopfsteinpflaster legte, blieb ihr Blick an etwas hängen. Es war ein winziges Stückchen Glas, das aus Miss Devines Wand gefallen war und jetzt im sommerlichen Sonnenlicht glitzerte.
In ihrem Kopf machte etwas klick.
In Miss Devines Laden hatte sich nichts verändert. Obwohl Lily nun schon so lange daneben wohnte, war sie nie wieder drinnen gewesen. Nur dieses eine, das erste Mal. Jetzt, da sie die Wand voller Glasfläschchen betrachtete, die schwach im Dämmerlicht des fensterlosen Raumes glänzten, spürte sie die gleiche Angst, die sie schon damals befallen hatte. Diesmal gab es neben der Angst jedoch noch etwas anderes – Entschlossenheit.
Sie fand Miss Devine an ihrem Gefühlsdestillator. Flink huschten ihre Hände über die Armaturen. Lily warf einen Blick auf den Lederstuhl in der Mitte. Eine alte Frau, die erst vor wenigen Tagen ins Almosenhaus gekommen war, lag ausgestreckt schlafend darauf, ihr Oberkörper hob und senkte sich langsam.
»Hier gibt es eine Menge Wut zu holen«, kommentierte Miss Devine, ohne aufzublicken. Ihr Gesicht war so ausdruckslos und geschäftsmäßig wie immer. Dann wischte sie ihre Hände an ihrem Arbeitskittel ab. »Noch dazu Wut von sehr guter Qualität. Damit lässt sich auf dem Markt ein angemessener Preis erzielen. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, die Selbstgerechtigkeit herauszufiltern. Diesen Beigeschmack mag niemand. Er macht alles viel zu bitter.« Sie legte ein paar Hebel um, und eine rote, sprudelnde Flüssigkeit tröpfelte nach und nach neben ihr in einen Behälter. Sie sah dabei zu, und ihr roter Schimmer spiegelte sich in ihren Augen. »Nun«, fuhr sie fort, »was führt dich denn zu mir? Ein wenig Gelassenheit würde bei dir Wunder wirken.«
»Nein danke, Miss Devine, aber ich möchte etwas anderes«, erwiderte Lily. Eine unerbittliche Ruhe kam über sie. »Erkenntnis vielleicht.«
Miss Devine drehte sich langsam um. »Ich glaube nicht, dass ich das auf Lager habe«, sagte sie vorsichtig und beobachtete Lilys Reaktion. »Wie wär’s denn mit etwas Neugier?«
»Gloria«, sagte Lily, fest entschlossen, sich nicht ablenken zu lassen. »Warum ist sie in letzter Zeit nicht mehr zu Ihnen gekommen?«
Miss Devine schüttelte verächtlich den Kopf. »Ebenso gut könnest du fragen, warum nicht die ganze Stadt zu mir kommt. Angebot und Nachfrage, Miss Lily, Kunden kommen und gehen …«
»Kunden schon, Süchtige nicht«, fiel ihr Lily ins Wort. »Ich habe gehört, dass Obsession am abhängigsten macht. Wie viel haben Sie ihr verkauft, bis sie immer wieder kommen musste, Miss Devine?«
Die Gefühlsverkäuferin richtete sich entrüstet auf. »Ich glaube nicht, dass du einschätzen kannst, was für einen kleinen Teil meines Geschäfts die Gefühle ausmachen. Ich bin Glasmacherin von Beruf, ich muss mich nicht darauf verlassen, dass …«
»Trotzdem tun Sie es, oder etwa nicht?« Lily spürte, wie das Eis in ihr brach. »Sie nutzen Leute aus, die so tief gesunken sind, wie sie nur können. Ihnen ist es völlig egal, ob sie auf der Straße liegen oder in herrschaftlichen Villen sitzen, denn letztendlich kommen sie alle zu Ihnen zurück.«
»Ich habe nie versucht, jemandem etwas zu verkaufen, der es nicht selbst wollte«, entgegnete Miss Devine kühl. »In dieser Hinsicht bin ich anders als andere. Geh doch mal in die Elendsviertel, Lilith! Ich bin wenigstens ehrlich. Ich versuche nicht, sie zu betrügen …«
»Eben. Sie sind die beste Händlerin, die sie kannte. Warum also ist sie nicht mehr zu Ihnen gekommen? Warum musste sie einen alten Fischer engagieren, um ihr die Gefühle zu besorgen, die sie brauchte?« Plötzlich ergab etwas anderes, was Miss Devine gesagt hatte, einen neuen Sinn. Das Brennen in Lily wurde heißer. »Warum musste sie in die Elendsviertel gehen, um es zu bekommen?«
Miss Devine starrte sie einen Moment lang an. Neben ihrer Verachtung war noch etwas
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