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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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überwältigt wurde?«
    Lily wandte ihr Gesicht ab. Es wäre ihr lieber gewesen, er wäre hämisch und begierig darauf, sie zu widerlegen. Gegen vernünftige Argumente konnte sie sich nicht wehren.
     
    Zwischen den Befragungen lief sie umher, verabreichte denen, die krank waren, ihre Medizin und versuchte, den vorwurfsvollen Blicken der Eintreiber auszuweichen. Dabei hoffte sie die ganze Zeit, Ben oder Laud würden zurückkehren, aber Theo erzählte ihr, sie hätten sich gleich auf den Weg gemacht, um die Leiche zu identifizieren. Lily setzte sich mit hängenden Schultern neben ihn. Trotz der vielen anwesenden Eintreiber fühlte sich das Almosenhaus plötzlich sehr leer an.
    Theo untersuchte die Wunden am Arm einer alten Frau. Seine Aufmerksamkeit schien völlig davon eingenommen zu sein, aber als Lily aufstand, um zu gehen, sagte er: »Sie kommen schon wieder, Lily. Doch du musst ihnen Zeit lassen. Sie haben im Augenblick nur einander.«
    Lily spürte ein Gefühl von Schuld in sich aufsteigen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nie daran gedacht hatte, sich nach ihrer Familie zu erkundigen. Das kam vom Leben im Waisenhaus: Man fragte niemanden nach seiner Familie, denn womöglich hatte jemand noch richtige Eltern, die ihn verkauft hatten.
    »Können wir denn gar nichts tun?«, fragte Lily.
    Theo sah sie überrascht an. »Du hast schon lange keinen Rat mehr von mir gebraucht, Lily.« Er wischte sich die Hände ab und versuchte zu lächeln. »Wir machen einfach weiter und tun, was wir können. Unsere Arbeit hört deswegen nicht auf.«
    Lily nickte und fühlte sich plötzlich sehr jung. Sie hätte diejenige sein sollen, die das sagte, schließlich war das alles ihre Idee gewesen, und Theo hatte es hingenommen, selbst als sie seine Praxis mit denen bevölkert hatte, die an Krankheiten litten, die keine Medizin heilen konnte.
    »Wenn es nur einen Hinweis gäbe«, sagte Lily. »Wenn ich nur etwas tun könnte, das mir wenigstens das Gefühl gibt zu helfen.«
    »Manchmal ist am besten, die Eintreiber ihre Arbeit machen zu lassen«, erwiderte Theo, obwohl Lily sehen konnte, dass es einen schlechten Geschmack in seinem Mund hinterließ. »Wenn es dir hilft, kann ich dir sagen, dass Laud erwähnt hat, man habe keine Gefühlsfläschchen bei ihr gefunden. Er fand das tröstlich …«
    »Überhaupt keine?«, fragte Lily überrascht. Gloria hatte versucht, es zu verbergen, aber sie wussten alle, wie ernst ihr Problem war. Sie hatte geklirrt, wenn sie sich bewegte.
    »Es muss ihr ausgegangen sein.« Theo runzelte die Stirn. »Das hat sie wahrscheinlich unruhiger gemacht, und sie war nicht mehr so aufmerksam …« Er seufzte; sein Gesicht war voller Schmerz. »Ich habe den Tod so viele Male gesehen, aber nie bei jemandem, den ich kannte. Sie verschwinden immer aus dem Blick.«
    Lily tätschelte beruhigend die Hand des Doktors, aber ihre Gedanken waren schon ganz woanders. Irgendetwas stimmte hier nicht, irgendeine Spur, die sie einfach nicht erkennen konnte.
    Ein triumphierender Ruf drang in ihre Gedanken. Als sie sich erschrocken umdrehte, sah sie Sergeant Pauldron in der Tür stehen. Und zwischen zwei anderen Eintreibern den sich verzweifelt wehrenden Pete, den alten Fischer. Inspektor Greaves ging rasch auf die Gruppe zu, und nachdem man sich kurz und flüsternd ausgetauscht hatte, zogen sich die Eintreiber mit ihrem Gefangenen in den Keller zurück, den sie als Verhörraum in Beschlag genommen hatten.
    Lily warf einen Blick in Theos Richtung. Er nickte.
    »Ich kümmere mich hier um alles«, sagte er leise. »Geh und sieh nach.«
    Eilig stieg Lily die Treppe hinab, wo sie gerade noch sehen konnte, wie Pete auf ein altes Fass gestoßen wurde, das als Stuhl diente. Pauldron leuchtete ihm mit einer Laterne ins Gesicht, während der Inspektor sich mit ernster Miene vor ihn setzte. Seine übliche Leutseligkeit war verflogen.
    In den zuckenden Schatten, die die Laterne warf, blieb Lily auf der Treppe so gut wie unsichtbar. Sie verhielt sich still und hörte zu, wie Greaves sich räusperte und einer Eintreiberin, einer jungen Frau, bedeutete, sich Notizen zu machen.
    »Sie heißen Peter, ist das richtig?«
    »Ja, Sir.« Petes Stimme klang rau, aber gefasst. Sein ganzer Körper wirkte angespannt.
    »Wie alt sind Sie?«
    »Ich habe neununddreißig Sommer gesehen.«
    Pauldron beugte sich vor, leuchtete Pete mit der Laterne in die Augen, betrachtete die Falten in Petes Gesicht und die grauen Strähnen in seinem Haar.
    »Merkwürdig.

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