Die Stadt der verkauften Traeume
anderes in ihren Augen zu sehen. Ein Hauch von Angst.
»Ich bin beschäftigt, Miss Lily. Du findest ja allein hinaus.«
Lily spürte, wie sich ihre Hände verkrampften. Sie spürte, dass es hier irgendetwas gab, das alles miteinander in Verbindung brachte. Wenn sie die Fäden doch nur zusammenfuhren könnte!
Ihre folgenden Worte schienen aus dem Nichts zu kommen.
»Einmal habe ich ein paar Eintreiber belauscht«, sagte sie leise. »Sie redeten über das Gesetz. Wissen Sie, was das schlimmste Verbrechen in Agora ist, Miss Devine?«
Miss Devine versuchte, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, aber sie hörte genau zu.
Lily fuhr fort: »vor Jahren gab es einmal eine Gruppe von Bäckern, die versuchten, ihr Brot wertvoller zu machen. Dazu benutzten sie nicht einfach feineres Mehl, nein, sie kamen auf die Idee, sich mit den anderen Bäckern abzusprechen. Sie beschlossen, nicht mehr an alle Leute zu verkaufen, sondern die Stadt einzuteilen und die Leute aus jedem Bezirk dazu zu bringen, zu einem bestimmten Bäcker zu gehen und keinem anderen. Dann konnten sie für ihr Brot verlangen, was sie wollten. Brot braucht schließlich jeder.«
»Eine schlaue Strategie«, erwiderte Miss Devine vorsichtig.
»Geradezu genial«, sagte Lily und kam Miss Devine dabei immer näher. »Und verboten. Das allerwichtigste Gesetz in Agora: Niemand darf den freien Handel behindern. Die Rädelsführer kamen ins Gefängnis.«
»Der beste Ort für sie.«
Da war es wieder: das Stocken in der Stimme, das Zögern, das ein wenig zu lange dauerte. Lily war völlig ruhig, auch als etwas in ihr Miss Devine laut anschrie. Sie legte die Hand auf den Gefühlsdestillator und sah Miss Devine tief in die Augen.
»Und die, die sich bereit erklärt hatten, nicht zu verkaufen … wurden ebenfalls festgenommen. Und dann an die Leute als Diener verkauft, die sie zuvor betrogen hatten. Soweit ich weiß, wurden einige sogar hingerichtet. Bis auf die, die gestanden und freigelassen wurden.« Lily lächelte freudlos. »Die Stadt brauchte schließlich Bäcker.«
Dies war der entscheidende Moment. Lily wusste, dass ihr Blick Miss Devine nicht loslassen durfte, sonst würde sie wieder entkommen. Ein Bild von Gloria tauchte vor ihr auf, und sie hielt durch. Es war Miss Devine, die zuerst wegsah.
»Es existieren keine Aufzeichnungen …«
»Natürlich nicht, aber Sie müssen im Gegenzug etwas von ihnen erhalten haben. Etwas ohne jeden Beleg. Trotzdem werden es die Eintreiber finden, Miss Devine.« Lily machte einen Schritt zurück und musterte die Gefühlshändlerin von oben bis unten. Sie kam ihr geschrumpft vor, kleiner als je zuvor. »Sie sind Geschäftsfrau, Miss Devine. Sie wissen, wenn Sie aus dem Geschäft sind.«
Miss Devine lachte. Es war nur ein einzelner harter, kalter Ton. »Wir sind alle aus dem Geschäft, wir wissen es nur nicht immer. Selbst die, die glauben, ganz oben mitzumischen. Selbst die, die mit der Schwäche anderer handeln.« Miss Devine nahm das Fläschchen Wut und schüttelte es. Die roten Bläschen hüpften in ihrer Hand. »Das ist das Wunder der Sucht – sie hat uns alle im Griff. Ganz gleich, ob es sich um Reichtum oder Macht handelt, um die Gedanken an einen alten Freund … Einen Freund, der mehr ist als das …« Ein seltsamer, fast wehmütiger Ausdruck strich über ihr Gesicht. Als sie Lily ansah, waren ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengt. »Sogar das Kämpfen für die gute Sache kann zur Sucht werden, Miss Lilith, und die Wahrheit macht am süchtigsten, wenn sie in kleinen Dosen zu einem kommt.« Miss Devine stellte das Fläschchen wieder hin. Es klirrte gefährlich. »Angeblich ist er ein Wunderkind. Davon weiß ich nichts, aber eins muss ich ihm lassen – er weiß, wie man das Spiel spielt.
Lass sie stets im Ungewissen, sorge dafür, dass du der Einzige bist, der den Schlüssel zu ihrem Glück besitzt, dann kannst du dir ihrer Treue für alle Zeiten sicher sein.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Und mache, wie jeder andere Sterndeuter auch, die Zukunft von dir abhängig.«
Verwirrt trat Lily einen Schritt zurück. Ihre Gedanken drehten sich, sträubten sich gegen das, was Miss Devine soeben gesagt hatte, und versuchten sich etwas anderes auszumalen, was es noch heißen könnte, wobei sie genau wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab. Gloria hatte nur für einen Sterndeuter gearbeitet, dem gegenüber sie mit Sicherheit loyal gewesen war. Es war kein Tag vergangen, an dem sie nicht dort gewesen
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