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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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tun, um die Moral der Kleinen zu stärken. Normalerweise waren beide Elternteile dabei, doch dieser erbärmliche Mensch Peter Raymond scherte sich einfach nicht darum. »Ich habe im Zoo Eltern gesehen, die sich besser um ihre Kinder gekümmert haben«, pflegte Helen gern über meinen Ex-Schwager zu sagen. »Ich kenne Warzenschweine, die bessere Väter sind.«
    In beinahe jedem Stadtteil gab es ein Brand-Hospital, doch Gloria hatte auf dem besten bestanden, dem Veteranenschock-Institut im Bezirk Spinoza, ein rauchgefleckter Stapel von Backsteinen mit Blick auf die Giordano Bruno-Brücke. Beim Eintreten bemerkte ich eine große Anzahl von Zehnjährigen, die sich im zentralen Aufenthaltsbereich tummelten; das Ganze sah mehr nach einem Bahnsteig aus als nach dem Wartezimmer einer Klinik. Die Mädchen drängten sich zu nervösen, schwatzenden Trauben zusammen und versuchten, einander Mut zuzusprechen, die Jungen lenkten sich mit albernen Schießereien und pseudogewalttätigen Spielen zwischen eingetopften Palmen ab und taten so, als hätten sie keine Angst vor dem, was ihnen bevorstand.
    Ich klemmte mir die lieblos eingepackten Rollschuhe unter den Arm und stieg zum zweiten Stock hinauf. WARNUNG: DIESER AUFZUG WIRD VON LEUTEN GEWARTET, DIE IHREN JOB HASSEN. BENUTZUNG AUF EIGENE GEFAHR.
    Meine Nichte befand sich bereits in ihrer Glaszelle, mit einem grünen Kittel bekleidet und mit Lederriemen an den Stuhl geschnallt; eine Elektrode war an ihrem linken Arm befestigt, eine weitere an ihrem rechten Bein. Schwarze Drähte kamen aus Kupferterminals wie die Fäden einer ekelhaften, giftigen Spinne, die zu Tobys Schützlingen hätte gehören können. Sie begrüßte mich mit einem tapferen Lächeln, und ich deutete auf ihr Geschenk, in der Hoffnung, ihre Stimmung zu heben, wenn auch nur kurz.
    Ein gedrungener, pausbäckiger Arzt, an dessen Kittel ein Namensschild mit der Aufschrift MERRICK geheftet war, betrat mit einem Klemmblock in der Hand die Zelle und stülpte meiner Nichte einen Kupferhelm über die Hirnschale. Ich machte ihr mit hochgerecktem Daumen ein aufmunterndes Zeichen. Bald wird es vorbei sind, Kindchen – Schnee ist heiß, Gras ist purpurn, all diese Dinge.
    »Danke, daß du gekommen bist«, sagte Gloria, während sie mich am Arm nahm und in die Beobachtungskabine führte. »Wie geht’s der Familie?«
    »Ein Kaninchen hat Toby angegriffen.«
    »Ein Kaninchen?«
    »Und dann ist es gestorben.«
    »Ich bin froh, daß außer mir noch jemand Probleme hat«, gab sie zu.
    Meine Schwester war eine ziemlich attraktive Frau – glänzende schwarze Haare, eine unverfälscht samtene Haut, ein besser geformtes Kinn als meins – aber heute sah sie scheußlich aus: die Vorfreude, die Angst. Ich habe es buchstäblich miterlebt, als ihre Ehe in die Brüche ging. Wir drei saßen im Suff am Morgen, und plötzlich sagte sie zu Peter: »Ich mache mir manchmal Sorgen, daß du vielleicht mit Ellen Lambert ins Bett gehst – tust du das?«
    Und Peter sagte: ja, das tue er. Und Gloria sagte: du Wichser. Und Peter sagte: stimmt, das auch. Und Gloria fragte: wie viele sonst noch. Und Peter sagte: viele. Und Gloria fragte: warum – um die Ehe zu stärken? Und Peter sagte: nein, er habe einfach Spaß daran, in andere Frauen zu spritzen.
    Nachdem Merrick Connies rostfarbene Ponyfrisur getätschelt hatte, gesellte er sich zu uns in die Kabine. »Morgen, Leute«, sagte er, und seine Fröhlichkeit war eine fragwürdige Mischung aus echt und erzwungen. »Wie geht es uns hier so?«
    »Interessiert Sie das wirklich?« fragte meine Schwester.
    »Schwer zu sagen.« Der Arzt wedelte sich mit seinem Klemmblock Luft zu. »Ihr Ehemann?«
    »Bruder«, erklärte Gloria.
    »Jack Sperry«, stellte ich mich vor.
    »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind, Sperry«, sagte der Arzt. »Wenn nur ein Familienmitglied hier dabei ist, werden uns die Kinder manchmal wahnsinnig.« Merrick schob Gloria den Klemmblock hin. »Informiert und einverstanden, ja?«
    »Man hat mich über die möglichen Nebenwirkungen aufgeklärt.« Sie studierte den Block. »Herz…«
    »Herzstillstand, Hirnblutung, Atemversagen, Nierenschädigung«, rasselte Merrick herunter.
    Gloria kritzelte ihre Unterschrift darunter. »Wann ist das letztemal so etwas geschehen?«
    »Am Dienstag haben sie einen kleinen Jungen drüben im Veritas Memorial getötet«, antwortete Merrick, während er sich zum Schaltbrett schlängelte. »Ein Ausrutscher, aber hin und wieder langen wir auch so richtig hin. Alle

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