Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
Zeichen zum Abendessen. Elliott führt mich in einen üppig ausgestatteten Saal, den, ebenso wie der Thronsaal, zahlreiche Drachenköpfe zieren. An der Decke hängt ein mit unzähligen winzigen Drachenküken verzierter Kronleuchter.
»Das ist einer der Gründe, weshalb ich den Debauchery Club immer gehasst habe«, sagt Elliott. »Mein Onkel hat einen grauenhaften Geschmack, was Einrichtung angeht.«
»Wird er uns verraten …«, frage ich, doch Elliott drückt mein Knie, um mich zum Schweigen zu bringen.
Das Essen wird von Dienern serviert, die es nicht wagen, uns in die Augen zu sehen. Elliotts Hand liegt die ganze Zeit über auf meinem Bein. Am liebsten würde ich sie wegschieben, doch da ich einen langen Rock trage, würde es prüde wirken. Außerdem liegt sie höchstwahrscheinlich nicht grundlos dort: Auf diese Weise kann er unbemerkt mit mir kommunizieren.
Ein Mann gegenüber von uns spießt ein Stück Fleisch mit dem Messer auf. »Ich sage mir jeden Tag, was für ein Glück wir doch hatten, dass die Seuche nur die Pferde dahingerafft hat und nicht die Kühe. Innerhalb einer einzigen Woche war jeder Gaul in unserem Stall tot.«
»April hat Pferde geliebt«, sagt Elliott leise zu mir. »Sie hat praktisch ihre gesamte Kindheit im Pferdestall verbracht. Natürlich habe ich auch Reiten gelernt und bin jeden Tag ausgeritten, um zu trainieren und an der frischen Luft zu sein, aber April war bei weitem die größere Pferdeliebhaberin. An dem Tag, als die Seuche ihr Pferd dahingerafft hat, war sie trauriger als an dem Tag, an dem unser Vater …« Er bricht in letzter Sekunde ab. Die Leute spitzen bereits die Ohren.
Ich sehe ihm in die Augen. Für einen kurzen Moment empfinde ich so etwas wie Zuneigung für ihn – sei es, weil ihm um ein Haar ein Fehler unterlaufen wäre, oder wegen der tiefen Traurigkeit in seiner Stimme, als er von Aprils Verlust gesprochen hat.
Während des letzten Gangs rollen Dienstboten ein Klavier in den Saal.
»Spielst du Klavier?«, erkundigt sich der Prinz. Momente verstreichen, ehe ich merke, dass er mit mir gesprochen hat.
»Nein«, antworte ich.
»Wie schade«, sagt er und gibt einer jungen Frau ein Zeichen. Plötzlich überkommt mich Heimweh. Mutter spielt dieses Lied ständig, besonders an trüben Tagen.
Nach dem Konzert verläuft sich die Gästeschar. Elliott steht auf und nimmt mich bei der Hand. Widerspruchslos folge ich ihm, als wir den Haupttrakt des Schlosses verlassen. Er schiebt einen Wandteppich beiseite und betritt einen dunklen Korridor.
»Mein Onkel will mich sehen. Während ich weg bin, musst du etwas für mich tun.«
»Ein Buch stehlen?« Mein neckischer Scherz verpufft im Halbdunkel.
Elliott nimmt seine Maske ab und beugt sich zu mir herab. Sollte irgendjemand um die Ecke biegen, würde es so aussehen, als stünden wir im Begriff, uns zu umarmen. Mein erster Impuls ist, vor ihm zurückzuweichen, doch er spricht so leise, dass ich ihn dann nicht verstehen würde. Seine Lippen berühren mein Haar, sodass ich die Worte eher spüren als hören kann.
»Es gibt da ein Mädchen«, flüstert er. »Sie hat Informationen. Du musst dich im Verlies mit ihr treffen.« Eilig erklärt er mir den Weg, doch ich habe Mühe, mich auf die ungewohnte Bewegung so dicht an meinem Haar zu konzentrieren.
»Ich hoffe nur, April ist nicht im Verlies eingesperrt, aber wenn jemand weiß, wo sie ist, dann ist es Nora.« Er sieht auf seine Taschenuhr. »Ich muss gehen. Mein Onkel hasst es, wenn man ihn warten lässt.«
Ich wende mich zum Gehen, doch er packt mich bei der Hand.
»Noch etwas. Was auch immer du tust, betrete auf keinen Fall eine Zelle.«
Und damit macht er kehrt und strebt davon.
Minutenlang stehe ich allein da und sehe Schatten über den unebenen Steinboden huschen. Der Mörtel, der die Steine zusammenhält, ist dick und grobkörnig, als hätten sie mit Gewalt aneinandergefügt werden müssen. Der Prinz hat das gesamte Schloss übers Meer herbringen lassen – der Bau ist gewissermaßen ein Requisit seines Größenwahns. Ich erschaudere.
Ich haste die feuchte Steintreppe hinab und nehme eine Kerze aus einem Halter in der Halle, ehe ich ins Verlies hinabsteige, sorgsam darauf bedacht, sie nicht fallen zu lassen. Der Geruch nach Dunkelheit und Moder schlägt mir entgegen. Nach Unrecht. Ich höre Mäuse, zahllose winzige Füße, die über den Steinboden trippeln, und habe Mühe, nicht die Nerven zu verlieren. Noch drei Stufen. Dann fünf. Dann zehn. Der Boden ist uneben,
Weitere Kostenlose Bücher