Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
dass es so gewaltig sein würde. Wie eine riesige Kröte, die sich auf der Halbinsel breitgemacht hat, kalt und bedrohlich und von ausnehmender Düsterkeit.
»Mein Onkel hat dafür gesorgt, dass die Straße auf dieser Seite verläuft, um genau diese Reaktion bei den Leuten hervorzurufen.«
»Welche Reaktion?«
»Die, wie ich sie gerade an dir sehe. Ehrfurcht? Angst?«
Aus dieser Perspektive kann ich erkennen, dass es sich nicht nur um ein gewöhnliches mittelalterliches Schloss handelt, sondern um eine Kathedrale mit einer Abtei, zusammengefügt zu einem unheimlichen, geheimnisvollen Ganzen.
»Potthässlicher Kasten, was?« Elliott lenkt die Dampfkutsche durch den letzten steinernen Torbogen und hält an. »Sei vorsichtig. Erzähl meinem Onkel nichts von deinen Eltern und lass dir bloß nicht anmerken, dass wir nicht unsterblich verliebt ineinander sind.«
»Wir sind also nicht unsterblich ineinander verliebt?«
»Verspotte mich ruhig, aber ich bin jedenfalls völlig vernarrt in dich.«
»Du bist ein besserer Lügner, als ich dachte«, erkläre ich leichthin.
»Ich bin sogar ein hervorragender Lügner.« Er steigt aus und tritt um die Kutsche herum, um mich herauszuheben. Er zieht mich an sich. »Und du musst das auch sein«, sagt er leise.
Im Hof ist es sonnig und beinahe schwül, doch kaum haben wir das Schloss betreten, schlägt uns unangenehme Kälte und Dunkelheit entgegen. Der abrupte Temperaturwechsel ist ein Schock. Die Eingangshalle und die angrenzenden Räume sind vollkommen leer, und jede Bewegung, die ich mache, scheint durch das gesamte Schloss zu hallen.
Dienstboten in blau-violetter Livree tauchen aus den Schatten auf und folgen uns. Elliott nimmt sie nicht zur Kenntnis und bleibt erst stehen, als wir vor einer riesigen geöffneten Tür stehen. Ein Bote eilt an Elliott vorbei in den Raum. »Euer Neffe!«, verkündet er mit lauter Stimme. »Euer Neffe und … seine Freundin.«
Der Raum ist groß und voller Menschen.
Wir betreten den Thronsaal. Elliott verneigt sich.
»Hallo, Onkel. Ich habe meine Verlobte, Miss Araby Worth, mitgebracht, die ich dir gern vorstellen möchte. Wie du vorgeschlagen hast.«
Seine Verlobte. Ich spüre, wie ich rot anlaufe. Der Brillant bohrt sich schmerzhaft in meinen Finger.
Der Prinz dreht sich um. Die plötzliche Last seiner Aufmerksamkeit ist so gewaltig, dass ich mich am liebsten hinter Elliotts Rücken verstecken würde.
Er steht da, als würde er für ein Porträt posieren – neben seinem Thron, eine Hand auf einen geschnitzten Drachenkopf gelegt. Er ist nicht ganz so klein, wie ich erwartet hatte, mit beginnender Glatze und dunklen, durchdringenden Augen.
»Wie schön, dass du kommst«, sagt er. Als hätten wir eine andere Wahl gehabt.
Er ist weder groß noch von besonders imposanter Statur, doch beim Klang seiner Stimme läuft es mir kalt den Rücken hinunter.
»Ich weiß ja, wie beschäftigt du bist«, erwidert Elliott.
»Aber doch nie zu beschäftigt, um mich um meine Familie zu kümmern.«
Ich sehe einen Muskel an Elliotts Kiefer zucken. Hier steht der Mann, der seinen Vater ermordet hat. Sein Onkel sieht an ihm vorbei zu mir.
»Dein Vater hat mir einmal einen großen Dienst erwiesen«, sagt er.
Ich werde mir meinen Zorn auf keinen Fall anmerken lassen. Mein Vater hat der gesamten Menschheit einen großen Dienst erwiesen, und zwar weder aus Gier nach Macht noch nach Geld und schon gar nicht, um dem Prinzen selbst einen Gefallen zu tun.
»Wir sind alle sehr stolz auf das, was er geschaffen hat«, sage ich.
Nachdenklich streicht sich der Prinz übers Kinn.
»Das solltest du auch sein. Und da du schon einmal hier bist, habe ich eine Bitte an dich. Ich hatte gehofft, dein Vater könnte herkommen und hier, in meinem Palast, leben.«
Der Prinz klingt, als wäre er ein vernünftiger Mann, trotzdem spüre ich die Gefahr bei jedem Wort, das über seine Lippen dringt. Eine Woge der Übelkeit überkommt mich, als sich unsere Blicke begegnen. »Dein Vater beharrt darauf, dass er und deine Mutter lieber in der Stadt leben wollen. Aber da du ja nun eine Freundschaft mit meinem Neffen eingegangen bist …«
Ich warte darauf, dass er April ins Spiel bringt, sie als Köder benutzt, doch er tut es nicht. Auch wenn meine Übelkeit von Sekunde zu Sekunde schlimmer wird, ist mir klar, dass ich irgendetwas sagen muss. Ich weiß, dass ich auf dünnem Eis stehe. Ich starre an ihm vorbei ins Leere und durchforste fieberhaft mein Gehirn nach einer Antwort, mit
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