Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
mir.
Wenn ich erst wieder zu Hause bin, werden wir einen unserer Spaziergänge zum Pier machen. Die Zeit wird die Wunden heilen, und Vater wird sich anhören, was ich ihm zu sagen habe. Aber ich habe schreckliche Angst, dass sich mein Leben von Grund auf verändern wird, alles, was mir lieb und teuer ist. Vielleicht werde ich nie wieder mit Vater spazieren gehen können.
Die Uhr an der Wand starrt auf mich herab – ein goldener Drache mit roten Augen in einer Kristallfassung, die unablässig tickt, in einem Rhythmus nur wenig langsamer als der Schlag meines Herzens.
Beim Gedanken an Elliott und seinen Versuch, mich zu umarmen, dämmert mir, dass ich um ein Haar meinen Schwur gebrochen hätte. Ich muss an Will denken. Wieso muss es nur so schwer sein, Schlaf zu finden?
Ich höre Schritte auf dem Flur und warte, dass sie verklingen, doch sie tun es nicht. Jemand betritt Elliotts Zimmer.
Während ich lausche, ob sie wieder herauskommen, schweifen meine Gedanken zurück zu jenem schwülen Abend im geheimen Garten der Akkadian Towers. Ich muss an die Eindringlichkeit denken, mit der Elliott mir erzählt hat, wie Prospero seinem Vater die Kehle aufgeschlitzt hat. Er hat nichts über das Blut gesagt, aber vermutlich ist es auf den Perserteppich geflossen. Und ich gehe jede Wette ein, dass sich der Fleck niemals hat entfernen lassen.
Ich erwache mit einem Schrei, völlig verschwitzt und verwirrt von einem Traum, der sich wirklicher anfühlt als dieses düstere, fremde Zimmer rings um mich herum. Eine Hand zupft meine Decke zurecht und streicht mir das Haar aus dem Gesicht.
Jetzt schlägt mein Herz schneller als die Drachenuhr. Viel schneller.
»Es ist in Ordnung. Du bist in Sicherheit.« Die Matratze senkt sich, als Elliott sich auf die Bettkante setzt. »Stimmt etwas nicht? Hattest du einen Albtraum?«
Ich habe von Blut geträumt. Einem Blutstrom, rot und sprudelnd.
Eigentlich will ich ihn fragen, wie er in mein Zimmer gekommen ist – vielleicht habe ich den Riegel ja doch nicht vorgeschoben –, doch mein Hals schmerzt. Ich muss so lange geschrien haben, bis er wund und rau war. Schon wieder. Und jetzt schluchze ich.
»Ich dachte, jemand versucht dich umzubringen. Sonst wäre ich nicht hereingekommen.« Er schwingt beide Beine aufs Bett und lehnt sich gegen das Kopfteil.
»Nein«, sage ich. Ich zittere und bin völlig durcheinander, aber ich werde ihm diese Ausrede nicht durchgehen lassen. Ich muss wachsam bleiben.
»Wir sind doch keine Feinde.«
»Das weiß ich«, flüstere ich. Aber auch keine Freunde.
»Ich werde hierbleiben und auf dich aufpassen.«
»Aber nicht im Bett.«
Er steht auf und zieht einen Lehnsessel dicht genug heran, um mein Haar berühren zu können.
»Mir war nicht bewusst, dass du mich so verabscheust.«
Ich schlage die Augen auf und sehe ihn an. Seine Stimme ist fast genauso rau wie meine. Ich habe ihn gekränkt.
»Ich verabscheue dich nicht.« Und das ist die Wahrheit. Ich tue es tatsächlich nicht. Ich mag seine Verletzlichkeit, aber selbst seine Arroganz kann manchmal unwiderstehlich sein.
»Gibt es jemand anderen?«
Wills Gesicht schiebt sich an den Rand meines Bewusstseins, doch seine Miene ist angewidert. Ich erinnere mich an diesen Ausdruck. So hat er mich angesehen, als ich die weiße Blüte im Innenhof des Clubs kaputtgemacht habe. Will ist fasziniert und abgestoßen zugleich von Mädchen wie mir.
»Nein«, antworte ich. »Niemanden.«
»Du bist Aprils beste Freundin. Ich hatte nicht erwartet, dass du sofort mit mir das Bett teilst, aber ihr beide habt ja nicht gerade keusch wie die Nonnen gelebt.«
»Ich schon«, widerspreche ich kleinlaut.
»Was?«
»Keusch. Ich habe einen Schwur geleistet.« Dies ist das erste Mal, dass ich es jemandem zu erklären versuche.
Wann immer ich im Begriff stehe, den Schwur zu brechen, wann immer ich glaube, dass ich es vielleicht doch verdient habe, glücklich zu sein, denke ich an den Tag zurück, als ich vor Finns Grab gestanden habe; jenem Grab, in dem er niemals beerdigt wurde, weil die Leichensammler ihn längst mitgenommen hatten.
»Du trinkst und konsumierst also Drogen bis zur völligen Bewusstlosigkeit, aber den schönsten Teil der Zügellosigkeit lässt du dir entgehen?«
Meine Geschichte interessiert ihn gar nicht. Ich hätte um ein Haar mein Innerstes nach außen gekehrt, aber in Wahrheit ist es ihm völlig egal.
»Ich will gar nicht wissen, wie es ist.«
»Solltest du deine Meinung jemals ändern, sag mir
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