Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
Vögel nur vom Fenster aus«, erklärt Elise.
Ein gequälter Ausdruck liegt auf Wills Gesicht. Aber er sollte keine Schuldgefühle haben. Immerhin hat er dafür gesorgt, dass sie am Leben bleiben.
»Wir gehen nicht allzu weit«, sagt er. »Aber einen Block von hier ist ein kleiner Park.«
Will hat einen Ball dabei; einen ziemlich großen, der sich leicht fangen lässt. Als wir im Park sind, wirft er ihn mit aller Kraft auf den Boden. Völlig fasziniert sehen die Kinder zu, wie er mit einem herrlich fröhlichen Geräusch über den Boden hüpft. Henry folgt seinen Bewegungen mit dem Kopf, auf und ab, dann lässt er meine Hand los und stürmt davon.
Wir sehen den beiden beim Spielen zu. Erst als Will das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert, wird mir bewusst, dass meine Hand in seiner liegt.
Elise bückt sich und betastet vorsichtig das Gras. Behutsam löse ich mich von Will und lasse mich mit meinen nackten Knien auf den spröden, braunen Rasen sinken.
Die Häuser um uns herum werfen lange Schatten auf den kleinen Park. Ein Anflug von Angst mischt sich unter meine gute Laune; Angst vor unsichtbaren Geschöpfen, die aus dunklen Ecken und tiefen Schatten auftauchen könnten.
»Wie hoch die Häuser sind!« Für Elise scheinen sie nicht im Mindesten bedrohlich zu wirken. Ich zupfe ein Kleeblatt ab, das dem Frost zum Opfer gefallen ist, und drehe es zwischen den Fingern hin und her.
»Wenn du eines mit vier Blättern findest, bringt es Glück«, erkläre ich ihr. »Dann darfst du dir etwas wünschen.«
»Ich suche eines für dich«, verkündet Henry und sieht mich mit seinen riesigen Kinderaugen an.
»Und was würdest du dir dann wünschen?«, will Elise wissen.
»Vielleicht würde ich es ja dir schenken, damit du dir etwas wünschen kannst.« Eine ungewohnte Zufriedenheit erfüllt mich, als ich dort sitze und mit den Fingern über die Pflanzen streiche.
»Oh nein, ich würde meines aber dir schenken«, sagt Elise ernst.
Ich halte einen Moment inne und schaue weg, unsicher, ob ich traurig sein soll, weil dieses kleine Mädchen glaubt, ich hätte einen Wunsch so dringend nötig, oder geschmeichelt, weil sie es mir schenken würde, ohne auch nur einen Gedanken an ihre eigenen Wünsche zu verschwenden.
Will lächelt und zuckt mit den Schultern. Meine Reaktion auf Elises Worte scheint ihn zu belustigen. Doch als ich ihm in die Augen sehe, ist das Kleeblatt sofort vergessen.
Er hat sich mit einem leisen Lächeln auf der Bank ausgestreckt und gähnt.
»Du hast heute noch keine Sekunde geschlafen«, bemerke ich. Ob ich ihn heute Abend bitten kann, mich nach Hause zu begleiten? Er sieht völlig erledigt aus.
»Später«, sagt er. »Heute kann ich wie ein ganz normaler Mensch zu Bett gehen. Der Club bleibt wegen der bevorstehenden Expedition der Discovery geschlossen.«
Wie ein ganz normaler Mensch. Ich frage mich, was er und die anderen Angestellten des Clubs von seinen Stammgästen und ihrem Durchhaltevermögen halten. In dem Jahr, seit ich regelmäßig den Debauchery Club besuche, hatte er kein einziges Mal geschlossen.
»Der Prinz hat angeordnet, dass bis zum Ablegen seines neuen Dampfschiffs sämtliche Geschäfte geschlossen bleiben müssen.«
»Du hast mit ihm geredet?«
»Kurz. Er war gestern Abend ein paar Minuten im Club. Er müsse jemanden abholen, der in der Stadt lebt, hat er gesagt.«
Meine Mutter? Mein Magen zieht sich krampfhaft zusammen. Oh Gott, meine Mutter. Ich muss sofort zurück nach Hause, zurück und zu Elliott.
»Du machst das Gras kaputt«, sagt Elise zu Henry.
Schuldbewusst lässt Henry die Halme los. Gerade als ich ihm versichern will, dass sie dem vom Winter ausgetrockneten Gras wohl kaum etwas anhaben können, sind sie ins nächste Spiel vertieft – den Ball hin und her rollen.
Die beiden brauchen noch nicht einmal miteinander zu reden. Auch Finn und ich haben uns immer ohne Worte verstanden. Ein Anflug von Neid überkommt mich, aber seltsamerweise schmerzt es mich nicht, ihnen zuzusehen. Und Elise wird Henry nicht verlieren. Dafür habe ich gesorgt.
Wieder gähnt Will.
»Zeit, nach Hause zurückzugehen. Es scheint zwar alles ruhig zu sein, aber als Beschützer tauge ich nicht viel, wenn ich auf dieser Bank einschlafe.«
Nasser Schneefall setzt ein. Die Flocken bleiben für einen Moment auf unseren Kleidern und Masken liegen, bevor sie schmelzen. Trotz allem ist mir warm, und ich bin … glücklich. Ich hasse den Gedanken, all das gleich hinter mir lassen zu
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