Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
sehen –, ehe ich mehrmals mit der Faust dagegenhämmere. Schließlich werfe ich jede Höflichkeit über Bord und drehe einfach den Türknauf. Natürlich ist abgeschlossen.
Ich stehe da und warte, während sich mein Herzschlag erneut beschleunigt. Was, wenn sie nicht zu Hause sind?
Gerade als ich jede Hoffnung aufgeben will, öffnet sich eine Holzklappe in der Tür, und ein blaues Augenpaar erscheint.
»Araby!« Ich höre das Klicken von Schlössern, dann öffnet sich die Tür.
Ich dränge mich hinein, vorbei an den Kindern, und verriegle die Tür wieder hinter mir.
»Da draußen ist es gefährlich«, sage ich.
»Du klingst genauso wie Will.« Elise trägt ihre Maske. Ich hasse die Art und Weise, wie sie ihr Gesichtchen verdeckt und die Verletzlichkeit ihres kleinen Bruders noch deutlicher hervortreten lässt. »Er ist in der Küche.«
Will sitzt mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl und hat beide Hände um einen Becher gelegt.
Ich könnte mir keinen schöneren Anblick vorstellen.
Er arbeitet in einem Nachtclub, ist dünn, gut gekleidet und gefährlich mit seinen Tattoos und seinem zerzausten Haar. Er sieht müde und abgekämpft von der nächtelangen Arbeit aus, aber nichtsdestoweniger wirkt er geheimnisvoll.
Doch die Küche, die Kinder, von denen mich eines bei der Hand genommen hat, während das andere den zerfetzten Stoff meines Rocks umklammert hält – sie erzählen die Geschichte von jenem Will, der mir einen kurzen Einblick in sein Leben gewährt hat. Von dem geheimen Will.
Ich sehe mein Gesicht im Spiegel in der Diele. Es ist schmutzig. Er hebt den Kopf.
»Hi«, sage ich.
Seine erste Reaktion ist ein müdes Lächeln, dann bemerkt er meinen Zustand und springt erschrocken auf.
»Du blutest ja«, ruft er.
»Ich glaube nicht …«
»Komm her.« Er stellt den Becher auf den Tisch, führt mich zur Spüle, befeuchtet ein Tuch mit Wasser aus einem Krug und tupft mein Gesicht ab.
Ich nehme meine Maske ab. Er trägt keine.
Das Wasser ist kalt. Seine Stimme wärmt mich.
»Du bist ziemlich vertrauensselig.«
»Nein«, widerspreche ich. Nicht nachdem mich zuerst jemand über einen Fluss voller Krokodile gehalten hat und ich wenig später Opfer eines Giftanschlags geworden bin. Wieder beginne ich zu zittern. »Ein paar Jungs haben mich verfolgt. Ich musste mich verstecken, außerdem waren Gestalten mit Umhängen auf der Straße …«
»Jetzt bist du in Sicherheit. In ein Haus trauen sie sich nicht. Dafür werden sie Jagd auf jemand anderen machen, der wehrlos aussieht.«
Ich erzähle ihm nicht, dass sie mir in ein Gebäude gefolgt sind, weil er so dicht vor mir steht und mein Gesicht berührt. Für einen kurzen Moment schließt er mich in die Arme, dann drückt er mich auf einen Stuhl und schiebt mir den Becher hin, den er gerade in den Händen gehalten hat.
»Wahrscheinlich ist er längst kalt, aber trink ihn trotzdem. Du blutest an der Hand und am Knie.«
Er wischt das Blut an meinem Knie ab, dann legt er meine Hand auf den Tisch und beginnt, das Blut daran abzutupfen. Vorsichtig zieht er den Brillantring von meinem Finger.
Er sieht sehr merkwürdig auf der Tischdecke aus. Funkelnd. Vergessen.
»Er war doch gar nicht im Weg«, bemerke ich.
»Nein.«
Will ruft Elise und bittet sie, ihm eine Nadel zu bringen.
Über der Spüle hängt eine Wanduhr, deren Zeiger ich wie gebannt anstarre, während er den Splitter aus meinem Finger holt. Zehn qualvolle Minuten.
Seine Hände sind sehr sanft, trotzdem flattern meine Nerven, wann immer er mich berührt. Sein dunkles Haar streift meinen Oberarm, während er sich um meinen Finger kümmert.
Ich starre in den Kaffeebecher und zwinge mich, möglichst normal zu atmen.
»So.« Er hält einen hässlichen Holzsplitter in die Höhe. »Schon besser.« Er beugt sich vor, als wolle er meine Hand küssen, doch in diesem Augenblick kommt Elise hereingelaufen.
Sie wirbelt herum und zeigt auf ihre Maske. »Sie sieht genauso aus wie deine, Araby!«
Mein Versagen ist wie ein Schlag ins Gesicht.
Ich packe Will und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. »Ich hatte eine Maske für Henry«, flüstere ich. »Ich wollte sie herbringen.« Alles ist ganz anders gekommen, als ich es mir vorgestellt habe. Ich hatte mir ausgemalt, wie ich Will die Kiste überreiche. »Vater hat sie für Finn gekauft.«
Will nimmt meine Hand, doch ich ziehe sie weg. Mir ist noch schmerzlicher bewusst denn je, wie wenig ich selbst das winzigste Quäntchen Glück verdient habe.
»Ich
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