Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
habe Vater erzählt, dass Henry eine Maske braucht. Und er hat mir etwas gegeben, was ihm sehr viel bedeutet haben muss. Und jetzt habe ich sie verloren.«
Ich habe heute schon zu viele Tränen vergossen. Will reicht mir ein Taschentuch, mit dem ich mir die Augen trockentupfe. Ich weiß, dass ich nicht gerade hübsch aussehe, wenn ich weine.
»Du bestrafst dich für Finns Tod«, sagt er. »Deshalb willst du auch nicht, dass ich deine Hand nehme?« Seine Stimme ist von qualvoller Sanftheit. Ich bin nicht sicher, wie er es herausgefunden hat, denn manchmal kann nicht einmal ich die Logik dahinter begreifen.
»Ich habe einen Schwur geleistet.«
Ich werde nicht weinen. Wenn die Last der Schuld so gewaltig ist, kann man nicht weinen. Sie legt sich kalt über einen. Für immer. Trauer fühlt sich warm an, Schuld hingegen ist von eisiger Kälte.
»Ich habe mir geschworen, niemals Dinge zu erleben … die Finn nicht erleben kann.«
»Du wolltest eine Maske für Henry herbringen?« Ein leises Zögern liegt in seiner Stimme, als wolle er sich selbst nicht gestatten, es zu glauben, doch dann erscheint der Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht.
»Ja, aber ich habe die Kiste versteckt, bevor die Jungen auf mich losgegangen sind. Wieso lächelst du?«
»Weil das bedeutet, dass es in Ordnung ist, wenn du mir auffällst und wenn ich dich mag. Ich habe mich schon gefragt, was mit mir nicht stimmt, als ich ständig im Club nach dir Ausschau gehalten habe und es kaum erwarten konnte, mit dir zu reden. Ich habe angefangen, mich für mein Interesse an dir zu hassen. Ich habe mich immer gefragt, was du sagen würdest, wenn ich dich untersuche. Worüber du und deine Freundin immer kichert.«
Dies muss der Moment sein, in dem mein Schwur endet. Ich bin viel zu glücklich, als dass es nicht so wäre.
»Ich kichere nie«, sage ich und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, was in mir vorgeht.
Er grinst.
»Du hast dich gefragt, was mit dir nicht stimmt, weil du mich mochtest?«, hake ich nach.
»Ich habe dir ja schon erzählt, dass ich eine Schwäche für Mädchen mit hellem Haar und glänzendem Lippenstift habe, aber normalerweise verfliegt der Reiz recht schnell wieder. Bei dir aber nicht.«
Er wendet den Blick ab. Seine Wangen sind leicht gerötet.
»William«, sagt Elise. Die Eindringlichkeit in ihrem Tonfall erschreckt mich. »Es wird schon dunkel. Du solltest nicht zur Arbeit gehen, wenn es dunkel ist.«
Will ist also ebenso wenig gegen die Gefahren auf den Straßen gefeit wie ich. Ich will nicht, dass er geht.
»Sie hat recht. Ich hätte längst aufbrechen sollen, aber ich war eben anderweitig beschäftigt.« Ein langsames, flirtendes Lächeln erscheint auf seinen Zügen, ehe seine Miene ernst wird. »Tut mir leid.« Er blickt einen Moment lang nachdenklich zu Boden. »Bleib bei uns und übernachte hier. Ich sage meiner Nachbarin, dass Henry und Elise heute oben bleiben. Sag mir, wo du die Kiste zurückgelassen hast, und ich werde zusehen, ob ich sie wiederbekomme. Ich will nicht, dass deine Tapferkeit und deine Großzügigkeit völlig umsonst waren.«
Staunend lausche ich ihm. Tapferkeit? Großzügigkeit? Ich bin nicht tapfer oder großzügig, aber es ist schön, dass er das denkt. Ich nenne ihm die Hausnummer und beschreibe die Nische im dritten Stock.
Er gibt mir eines seiner Hemden. Ein rotes. Es fühlt sich ganz weich an, als ich es an meine Wange halte. »In diesem Kleid kannst du ja schlecht schlafen. Zieh das hier an und denk dabei an mich.« Wieder hat sich der aufreizende Tonfall in seine Stimme geschlichen. Er runzelt die Stirn. »Ich will, dass du etwas für mich tust. Überleg dir eine Geschichte über deinen Bruder, die du mir erzählen kannst. Keine über dich und deine Schuldgefühle, sondern eine positive über ihn.«
Ich begleite ihn zur Tür. Er bleibt einen Moment stehen und drückt meine Hand, dann tritt er hinaus. Ich lege sämtliche Schlösser vor und gehe ins andere Zimmer, um mein Kleid auszuziehen.
Ich streife mir Wills Hemd über und lasse mich auf sein Bett fallen. Es ist merkwürdig, wieder hier zu sein. Sein letztes Lächeln begleitet mich, bis ich eine Kinderhand spüre, die mich an der Schulter berührt.
»Kennst du irgendwelche Geschichten?«, fragt Elise mit besorgter Miene, als sei es von größter Wichtigkeit, dass ich ihr eine Geschichte erzähle. Ich schließe die Augen. Früher hat uns meine Mutter immer Geschichten erzählt. Das habe ich in den Jahren, in denen wir ihm
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