Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
Keller gewohnt haben, am meisten vermisst. Finn hatte nie die Ruhe, ihr zuzuhören, aber ich habe ihre Geschichten geliebt.
»Ich kenne sogar sehr viele Geschichten«, sage ich. »Meine Lieblingsgeschichte handelt von einer Prinzessin, die gegen einen Drachen kämpfen muss.«
Als ich zu erzählen beginne, muss ich unwillkürlich daran denken, wie es war, dicht an meinen Bruder gekuschelt im Bett zu liegen und Mutters Stimme zu lauschen.
Drei Geschichten später sind beide Kinder eingeschlafen, und ich blase die Kerze aus.
Ich wache auf. Es ist stockdunkel. Stunden müssen vergangen sein. Ich habe geträumt, aber nicht von Krokodilen, sondern davon, wie mich jemand über die Wasseroberfläche hält. Von meinem erfolglosen Versuch, mich zu wehren. Jemand hält mich fest.
Als ich prüfend meine Maske betaste, streife ich Henry. Sein Gesicht ist weich und süß. Elise, die auf meiner anderen Seite liegt, trägt ihre Maske. Ich habe keine Ahnung, ob sie jede Nacht mit ihr schläft oder nur, weil ich jetzt hier bin.
Ich ziehe die Decke über die beiden Kinder, lege mich wieder hin und lausche ihren rhythmischen Atemzügen. Ich frage mich, wo meine Eltern wohl gerade sind. Ich werde das Bild nicht los, wie sie mich angesehen haben, bevor ich mit Elliott ins Schloss aufgebrochen bin. Als hätten sie Angst, mich nie wiederzusehen. Ob sie immer noch um Finn trauern? Oder haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie vergessen haben, jeden Tag diesen Schmerz über seinen Verlust zu empfinden? So wie es mir manchmal geht?
Es ist Morgen, als ich höre, wie die Tür vorsichtig geöffnet wird. Erschrocken fahre ich hoch. Will steht im Türrahmen und zieht seinen Mantel aus.
»Hallo, ihr Schlafmützen. Ich habe ein Geschenk mitgebracht.« Ich sehe, dass er die Brottüte auf einer schweren Teakholzschachtel balanciert.
»Du hast sie gefunden«, stoße ich atemlos hervor.
»Dank deiner Beschreibung war es kein Problem.« Henry und Elise reiben sich den Schlaf aus den Augen.
»Sie wachen so gut wie nie zu Hause auf«, sagt Will. »Sieh nur, Henry, Miss Araby hat dir ein sehr kostbares Geschenk mitgebracht. Jetzt kannst du genauso aussehen wie Elise. Und du kannst zur Schule gehen.«
Vorsichtig hält Henry die Maske zwischen seinen pummeligen Händchen mit den tiefen Grübchen. Will zeigt ihm, wie man die Maske richtig aufsetzt.
»Aber vorher wollen wir frühstücken. Es gibt eine Technik, wie man mit der Maske essen kann, aber wir wollen ja nicht, dass sie gleich am ersten Tag schmutzig wird. Dein Lieblingsbruder hat nämlich Zimtbrötchen mitgebracht.«
Ich folge ihm in die Küche. Ich trage immer noch sein Hemd, das sich an meinen Körper schmiegt und mir das Gefühl gibt, mehr zu enthüllen als jedes Kleidungsstück, das in meinem Schrank hängt.
Will lächelt. Es besteht kein Zweifel, dass er auch heute Morgen weiter mit mir flirten wird. Allerdings ist er nicht so forsch wie Elliott, außerdem habe ich bei ihm nicht das Gefühl, als erwarte er etwas von mir. Stattdessen liegt eine angenehme Wärme in seinem Blick. Eine Wertschätzung, die ich eigentlich gar nicht verdiene.
»Heute ist ein echter Freudentag«, verkündet er. »Wir werden mit den Kindern nach draußen gehen.«
A CHTZEHN
I ch war ganz allein, als ich das erste Mal den Keller verließ. Eigentlich erinnere ich mich nur noch daran, dass die fahle Sonne in den Augen schmerzte. Ich hatte geglaubt, dass Finn an diesem Tag bei mir sein würde. Aber so war es nicht.
Es wird schon nichts Schlimmes passieren, sage ich mir, während ich Wills Hemd ausziehe. Immerhin haben ja jetzt beide Kinder eine Maske.
Als ich die Überreste meines Kleids zusammengeklaubt habe, sitzen die Kinder bereits am Tisch und verschlingen ihre Zimtbrötchen. Beim ersten Bissen bleibt etwas Zuckerguss in meinem Haar hängen, worauf Henry sich auf seinen Stuhl stellt und ihn sorgfältig herauszupft.
Will betrachtet mein Kleid, das die reinste Katastrophe ist, und reicht mir seinen Mantel, damit ich das, was von meinem eigenen übrig ist, auf einem Bügel in seinem Schrank hängen lassen kann. Dann schlingt er den Kindern Schals um, und wir machen uns auf den Weg. Jedes Kind nimmt mich an einer Hand.
Der Wind fühlt sich angenehm kühl auf meinem Gesicht an und erinnert mich an meine Kindheit. Im Winter kommt einem die Stadt immer sauberer vor, vor allem, wenn für ein paar Stunden alles von einer dünnen Schneeschicht bedeckt ist. Henry lacht und zeigt auf einen Vogel.
»Wir kennen
Weitere Kostenlose Bücher