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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Lehrerin versuchte noch, etwas Freundliches zu sagen, sie wollte auf eine diplomatische Weise diesen groben Mann dazu bringen, dass er aufhörte. »Vielleicht wird noch ein Magier beim Zirkus aus ihm, ein Zauberer mit den Karten«, sagte sie. »Ha, sieht ganz nach einer Zirkusnummer aus«, schrie er. »Ein Possenreißer ist er ja jetzt schon. Er wird keine extra Clownsnase mehr brauchen, die Natur hat ihn schon mit einer versorgt«, sagte er höhnisch lachend und ließ seinen Zeigefinger auf meine Nase herunterfahren.
    In unserer Schule gab es eine sogenannte Einzelzelle, sie wurde immer benutzt, wenn Hausarrest, so nannte man das, ausgesprochen wurde. Der Direktor fand dafür ein paar kultiviert klingende Beschreibungen, ließ sich weit und breit darüber aus, dass es sich um eine Erziehungskammer handele, wir anderen nannten es aber einen Verschlag. Es handelte sich um einen schmalen langgezogenen Raum, ohne Fenster und ohne eine Sitzgelegenheit, eine Toilettenschüssel war darin, die Wände bekritzelt, und dahinter lag die Holzkammer. In der Mitte der Tür befand sich ein kleines Fenster mit Eisengittern, sodass die Schüler von außen denjenigen, der gerade bestraft wurde, beobachten konnten. Nach den Regeln der Schule konnte man einen Schüler bis zu höchstens achtundvierzig Stunden dort einsperren, das Minimum aber waren sechs Stunden. Man kam in diese Kammer nicht wegen schlechter Noten, auch nicht wegen unangebrachten Verhaltens, sondern wegen irgendeines schlimmeren Vergehens, etwa wegen Vandalismus am Schulinventar oder wenn man einen Lehrer angegriffen hatte, aber auch wegen »sündiger Handlungen«, zu denen das Masturbieren an einem öffentlichen Ort zählte. Diese Hausregeln galten seit der Zeit von Österreich-Ungarn, und daran hatte sich bis in unsere Zeit nichts geändert. Nach dem Aufenthalt in der Einzelzelle musste der verurteilte Schüler einen Text schreiben über die Zeit, in der er eingesperrt war. Jene Schüler, die keinen Sinn für das Schreiben hatten, sagten in der Regel, dass ihnen diese Textarbeit viel schwerer vorkam als die Strafe selbst. Aber es hatte so ausgesehen, als seien die Tage der Einzelzelle gezählt, denn überall war nun die Rede davon, dass die Kommunisten die überalterten Erziehungsmethoden abschaffen würden, da sie aus anderen Zeiten und Regimes rührten, die sich gegen das einfache Volk richteten.

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    Ich bekam achtundvierzig Stunden Hausarrest; so viel hatte zuvor nur ein anderer Schüler bekommen, der in der Nacht alle Schalter und Steckdosen aus unserer Schule entfernt und den Leuten in den umliegenden Dörfern verkauft hatte, denn damals wurden gerade die Stromleitungen verlegt. Zehn Jahrzehnte später ist dieser Junge ein bekannter Verbrecher geworden, und heute, während ich das hier schreibe, zählt man ihn zu einem der bekanntesten Leute im Pariser Kriminellenmilieu. Der Inspektor befand, dass unsere beiden Vergehen gleich gravierend waren; mein Vergehen sei, so drückte er sich aus, moralischer Natur. Für ihn hatte es die gleiche Bedeutung wie das, was der andere, also ein Dieb getan hatte, ein Junge, der ein schlechter Schüler war und später ein bekannter Mafioso wurde. Ich bekam nur zweimal in den ganzen achtundvierzig Stunden etwas zu essen; die diensthabende Schulaufsicht brachte mir das Essen. Während der großen Pause sahen mir die anderen Schüler zu, machten Witze über mich und aßen genüsslich vor meiner Tür. Der kleine Wicht von Kriegswaise warf mir eine Katze durch das Gitter, das war aber entgegen seiner Erwartung eine durch und durch liebe Katze, die ich schon viele Male gefüttert und mit der ich meine eigenen Schinkenrationen Stückchen für Stückchen geteilt hatte. Der Junge hatte gedacht, die Katze würde sich auf mich stürzen und mir das Gesicht zerkratzen, aber sie war einfach nur warm und anschmiegsam, legte sich auf meinen Bauch und schnurrte friedlich vor sich hin. Und als ich irgendwann am Nachmittag einschlief, muss sie einfach durch das Gitter wieder nach draußen gesprungen sein.
    Meine Lehrerin kam nicht zu Besuch, sie ging nicht einmal an meiner Tür vorbei. Meine besten Freunde blieben fern, sie trauten sich nicht einmal in die Nähe der Tür. Ich fühlte mich von allen verraten, die ich liebte. Ich muss gestehen, dass ich auch weinte, ich schluchzte lange vor mich hin, vor allem am Abend. Es fiel mir schwer, solche Torturen auszuhalten, ich bin als Held vollkommen ungeeignet, denn es gibt überhaupt nichts auf

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