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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Standpunkt widersprach, dann verdunkelte sich sein Gesicht in Sekundenschnelle und er ließ einen wütenden Wortschwall auf sein Gegenüber niederprasseln, darunter war nicht selten die eine oder andere gezielte Beleidigung. Er konnte sich sehr gut ausdrücken und sein Gedächtnis hatte schon eine mythische Dimension angenommen, über die man sich weit und breit ausließ; manchmal führte er seine Dialoge in Form von Zitaten, in denen halbe Bücher ihren Platz fanden, und in seiner Hemdtasche war das eine oder andere beschriftete Papier versteckt, von dem er dann die Zitate ablas und das Gesagte ergänzte, viele berühmte Namen waren darunter. Das war seine Art, sein Gegenüber schachmatt zu setzen. Er schmückte sich nicht mit hohen Persönlichkeiten, benutzte weder seine Macht noch seine Titel, er versprach den Leuten keine Luftschlösser, obwohl sich viele von ihnen an ihn wandten und um Arbeit baten, das eigene Kind in irgendeine Militärschule einschreiben wollten, auf der Suche nach einer kleinen Wohnung waren, sich ein Stipendium wünschten, nein, nein, auf so etwas ließ er sich nicht ein. Und als ihn einer seiner Schulfreunde einmal fragte, wo denn sein Domizil sei, wo er eigentlich wohne, soll er ihm geantwortet haben: »Immer an zwei verschiedenen Orten, wenn das dein hohler Kürbiskopf begreifen kann.«
    Wenn ich mitbekam, dass er den Leuten schroff über den Mund fuhr, gefiel mir das, denn ich war nie in der Lage, deutlich und klar meine Meinung zu sagen, selbst wenn es sich um jemand wirklich Lästiges handelte, den ich loswerden wollte; ich hielt die Attacken der anderen einfach aus, redete das Geschehen herunter und nahm sogar meine Angreifer vor anderen in Schutz. Vielleicht hatte einmal mein Onkel gerade ein Fenster offen gelassen, als er noch in der Villa wohnte und ein gerade erwachsen gewordenes Zimmermädchen verführte; davon erzählte sie mir jedenfalls zwanzig Jahre später in einem kleinen Meeresstädtchen, in dem sie gerade mit ihren beiden Kindern Ferien machte; sie hatte zwei erwachsene Töchter. Sie war früh Witwe geworden, achtunddreißig Jahre alt und strahlte noch vor Sinnlichkeit; ich hatte sie zufällig kennengelernt und nichts über sie gewusst, aber wir fanden so schnell alles über uns heraus, dass es uns schon wieder verdächtig vorkam, so deckungsgleich vor die Zufälle des Lebens gestellt zu werden. Ich war damals noch in den besten Jahren, die Frau zog mich magnetisch an, aber die Geschichte mit dem Onkel blieb das einzig Aufregende, das sich zwischen uns ereignete. Sie sprach zärtlich über ihn, nostalgisch, er war ihr erster Geliebter, von dem sie damals noch lange träumte; eine solche Leidenschaft wie mit ihm habe sie nie wieder erlebt, aber auch seine damaligen Worte nie vergessen können, obwohl sie ihre Bedeutung nicht einmal erahnen konnte. »Meine Liebste, ich bin nicht geerdet. Oft weiß ich nicht einmal, wer ich bin und wo ich mich befinde. Ich habe zwei Gesichter, eines bleibt immer unsichtbar.«
    Während seiner Zeit in Titos Villa ist Anđelko selten unter Leute gekommen, lediglich jeden zweiten Abend drehte er ein paar Runden im Park, als suchte er dort etwas Verlorenes, ab und an bückte er sich, um ein Steinchen oder ein Spänlein aufzusammeln, Gräser, ein trockenes Blatt, das er dann lange im Stehen betrachtete. Hier war er oft mit seinen Freunden in der Kindheit gewesen, er hatte dort seinen Baum und sein kleines Stückchen Erde; hier hatte sich ein Teil seines Lebens abgespielt; jeder von uns muss früher oder später seine Augenblicke zusammenklauben, muss sich erinnern, wo er sie verstreut hat, und kann dann den Vers des alten Dichters aufsagen: »Lange hat es gedauert, schnell ist es vorbeigegangen«. Anđelko verließ die Villa bei erster Dunkelheit, bevor der Abend hereinbrach, vor dem Abendessen, Begegnungen vermied er, sogar wenn er gegrüßt wurde, reagierte er nicht darauf, beeilte sich, in den Park zu kommen, als sei er dort mit jemandem verabredet und hätte ein Rendezvous mit einem Mädchen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ich mich an seine Fersen geheftet hatte und in den Büschen hockte, um ihn beobachten zu können. Ich schaffte es nicht, meinen Mut zusammenzunehmen und ihn anzusprechen, stattdessen rannte ich wie ein Fremder an ihm vorbei, ein vorlauter Schreihals, der unartikulierte Töne ausstieß. Einmal war ich entschlossen, auf ihn zuzugehen, ich war ganz in seiner Nähe, aber plötzlich fing ich an zu zittern und rannte

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