Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Sicherheitsnadel.
Sie nahmen uns das Haus nicht weg, das erlebten nur die ganz reichen Händler, bei denen auch der Grundbesitz verstaatlicht wurde. Aber da wir in Montenegro, im Städtchen N., eine staatliche Mietwohnung zugewiesen bekommen hatten, ging unser Haus auch an den Staat über, ohne dass an unserer Eintragung im Grundbuch etwas geändert worden wäre, und in unseren einstigen Räumlichkeiten züchtete man bald darauf Heilpflanzen. Im Erdgeschoss wurde eine Kräuter-Apotheke eröffnet. Sie war noch bis 1956 geöffnet, dann brannte das Haus bis auf den Grund ab. Zwanzig Jahre später errichtete jemand an der gleichen Stelle ein hässliches mehrstöckiges graues Haus, das wie alle anderen hässlichen Häuser aus dieser Zeit aussieht. Wir bekamen nichts für unsere Ländereien, meinem Vater erklärte man im Gemeindehaus, dass städtischer Besitz nun automatisch Eigentum des Staates wird, wir also alle auf fremdem Grund und Boden lebten. Wir kümmerten uns nicht mehr darum, informierten uns auch nicht, ob das nun wirklich eine gesetzliche Regelung war oder nicht.
Als wir über die Schwelle nach draußen traten, löschte Vater das Haus aus seinem Gedächtnis. Ich glaube, er hat es nie geliebt, aber vielleicht plagte ihn auch die Erinnerung, die Tatsache, dass er es einst mit Bestechungsgeldern und einem Betrug in seinen Besitz gebracht hatte.
Vater stellte sich allen Schwierigkeiten, die mit dem Umzug verbunden waren, er schonte Mutter, wo immer es möglich war, mich auch, denn ich war ohnehin stets in ihrer Nähe, nur beim Aufladen hatte ich richtig angepackt. Vater fuhr mit dem beladenen Laster voraus, unsere Habseligkeiten hatten wir nicht einmal zugedeckt, nach einer langen Zeit der Dürre hatten sich gerade an diesem Tag ein paar Wolken am Himmel gezeigt, aber ein Sommergewitter blieb dennoch aus. Mutter und ich standen noch kurze Zeit im leeren Haus, sahen uns um, inspizierten jede Ecke, und beim Hinausgehen küsste sie plötzlich den Türrahmen, was ich ihr sogleich nachmachte. Das Küssen beruhte auf einem alten Glauben, der besagte, dass man entweder die Schwelle oder den Rahmen eines Hauses küssen müsse, »wenn man es bezieht oder verlässt«. Ein Haus ist ein Tempel, Zufluchtspunkt und geschützter Raum, Schlaflager und ein Ort, an dem man zur Ruhe und zu sich selbst kommt. Sie weinte immerzu, als wir in Richtung Bahnhof gingen, ich trug eine Tasche, in der sich die Unterwäsche meiner Mutter befand, ein paar alte Laken, eine Schere und ein Hygiene-Mäppchen, für den Fall, dass die Wehen zu früh einsetzten oder Mutters Berechnung des Geburtsdatums falsch war. Ich trug noch eine Flasche Wasser, eine schöne alte bauchige Zweiliter-Korbflasche, mit einem Korkstopfen, der in eine kleine Glaskugel eingearbeitet worden war.
Mutter blieb immer wieder stehen, sah sich um, es war das letzte Mal, dass sie ihr Haus sehen konnte, ich hingegen wollte so schnell wie möglich zum Regionalzug nach L. und empfand nicht das Gleiche beim Abschied wie sie. Ich hatte den Türrahmen doch geküsst, was konnte ich denn noch anderes tun, war dies nicht des Abschieds genug? Ich habe nie Anhänglichkeiten an Wohnungen und Häuser entwickelt, in denen ich gelebt hatte, an die Lebensabschnitte, die ich in ihnen verbrachte, dachte ich nicht mehr als an einen Teil meiner Wirklichkeit zurück, für mich waren das nur Möglichkeiten des sich Niederlassens gewesen. Vergangenheit. Lediglich das Haus meiner Großeltern in L., mein Geburtshaus, in dem auch meine Mutter das Licht der Welt erblickt hatte, weckte Erinnerungen in mir, das Gedächtnis zog mich hin und wieder melancholisch zu jenem zerbrechlichen Wesen, das ich einmal gewesen war und das man in die Welt geworfen hatte und das wie jeder andere auch das Schutz spendende Nest seines Kindheitszimmers irgendwann verlassen musste; das war das einzige Haus, das irgendeine Bedeutung für mich hatte, und es blieb auch das einzige, das mich viele Male voller Sehnsucht zum Weinen brachte. Das Haus stellte den Verlust meiner inneren Landschaften dar und es war seine Schuld, dass ich mich manchmal bei sinnlosen Träumereien ertappte, wie etwa dem Gedanken, vielleicht doch noch eines Tages in meine Geburtsgegend zurückzukehren, in eine Region also, in der nichts so stark ist wie die Herrschaft des schönen Fluchs, so hat es einmal ein Freund von mir geschrieben, ein bosnischer Dichter, in seinem nostalgischen Poem »Die Unmöglichkeit der Rückkehr«.
Am Ende dieses Kapitels
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