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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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ausstehen konnte. Nach drei, vier Tagen, die wir mit Großmutter Jelica verbracht hatten, wurden wir benachrichtigt, dass in der gerade eröffneten Post von L. ein Anruf für uns angekündigt worden sei, ich ging zur anvisierten Zeit hin und sprach mit meinem Vater. Er war begeistert von der Stadt und den Menschen und von der neuen Wohnung, seine Stimme überschlug sich vor Glück, er bat uns, mit dem Morgenzug zu kommen, denn er hatte schon alles für unseren Empfang und für die Niederkunft vorbereitet.
    Heute weiß ich nicht, was aus dem Erbe meines Großvaters geworden ist, wem mein Geburtshaus gehört, die Erinnerungen jedoch sind sehr lebendig. Jemand hat mir erzählt, das Dach sei schon vor langer Zeit eingestürzt, die Wände quietschten geisterhaft, es wachse an ihnen Efeu und wilder Wein entlang, und aus den Trümmern, genau an der Stelle, an der die Ladenkasse gestanden und wo das Feuer im Herd gebrannt hatte, sei ein großer krummer Feigenbaum gewachsen, um den Baum herum schieße Farn und Unkraut nur so in die Höhe. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, aber ich selbst bin das letzte Mal 1950, als meine Großmutter Jelica verschwunden war, dort gewesen. Sie haben sie im Hain tot aufgefunden, nachdem sie tagelang auf der Suche nach ihr gewesen waren. Ich habe sie nicht gesehen, als man sie brachte, war sie in eine Plane gewickelt und gleich in einen Sarg gelegt worden, den man auf der Stelle vernagelte. Ich wollte mir keine Geschichten über ihren Leichnam anhören; ich war mit Schulfreunden aus N. nach L. gekommen; drei von uns und zwei Freundinnen blieben noch drei Wochen nach Omas Begräbnis; heiter verbrachten wir dort die Zeit der Sommerferien und blieben bis Anfang August. Wir sprachen kaum über Großmutters Tod, nur am Abend verschreckten wir die Mädchen ein bisschen, wenn wir von der »Seele der Toten« sprachen und uns aus Spaß ihre Kleider anzogen. Wir haben nie so gelacht wie damals, ich erinnere mich nicht daran, dass ich jemals später so viel Nähe zu anderen Menschen zulassen konnte.
    Meine städtischen Mitschüler bestaunten alles, was sie im Haus oder auf dem Grundstück sahen, die Natur kam ihnen anders und schöner, ja aufregender vor als in der Stadt. Alles schien sie zu unterhalten, sie lachten über die einfachsten Dinge wie etwa über einen ganz normalen Sommerregenguss, ein Gewitter erwarteten sie glucksend, schrien vor Glück und rannten zum Tor am Ende unseres Grundstücks. Die Entladung der Gewitterwolken rief uns magisch nach draußen, wir stellten uns ihrem Zorn, indem jeder von uns einen Eisengegenstand in die Hand nahm und in den gefährlichsten Winkel auf dem Hof rannte; hier war schon einmal ein Blitz eingeschlagen und hatte unsere schöne Eiche verbrannt, die sogar Eingang in botanische Lexika gefunden hatte und in einem Buch mit dem Titel »Parkanlagen im Hinterland der Küste« als eine Art der immergrünen Eiche erwähnt wurde. In Opas Werkstatt fanden wir alte Eisengegenstände und rannten mit ihnen wie mit Waffen nach draußen. Aber unserem kindlichen Getrommel und den gefährlichen Blitzmagneten zum Trotz passierte keinem von uns etwas. Das waren damals unsere Spiele, unsere unbedachten kleinen Leichtfertigkeiten. Diese Art von Selbstunterhaltung kam gleichsam von alleine auf, manchmal auch am Fluss, wenn wir Krebse und Forellen fischen gingen und dann plötzlich in die Bäume hinaufkletterten, um von den Wipfeln wieder kopfüber ins Wasser zu springen. Wir waren allesamt gute Schwimmer, auch die Mädchen. Wenn ich mich ausschließlich mit dem Thema Kindheit beschäftigen würde, hätte ich vieles zu sagen, die Natur käme in allen ihren Nuancen darin zum Tragen, aber ich kann nicht, ich fühle mich von der Idylle abgestoßen, das Säuseln des Wassers macht mich nicht glücklich, deswegen geize ich mit Naturbeschreibungen, meine Obsessionen gelten etwas anderem; vielleicht der Vergänglichkeit, vielleicht dem Tod.

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    Von L. brauchte man etwa zwei, drei Stunden, um nach N. zu kommen, es hing alles von den Kreuzungen ab, von den Personen- und Transportzügen, und an der Bahnstation Bileća stand man mindestens eine halbe Stunde, weil diese Haltestelle gleichzeitig die Endstation eines anderen Zuges war, auf den wir warteten; die Lokomotive wendete hier, jedes Mal schaute ich mir diesen Vorgang ganz genau an, blieb an der Wendestelle stehen, sah den Zug auf dem anderen Gleis einfahren, blickte zum Zuganfang, sah, wie die Lokomotive nun an der Stelle

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