Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
unsere Seite, auf eine so mutige Weise, dass ich die Fremden um ihre Kraft und um ihr Mitgefühl für uns beneidete. Mutter erlebte das nicht auf die gleiche Weise wie ich, ihre Schmerzen wurden immer schlimmer. Einer der jungen Männer hatte eine kraftvolle Sprache, mit einem montenegrinischen Akzent, er war offenbar gebildet und nannte die Arbeiter wilde Tiere. Er sagte sogar, dass Tiere verständiger als sie seien, sie empfänden mehr, beschützten ihre Kleinen, umarmten sie. »Und ihr macht euch über eine Geburt lustig, macht Witze über etwas Heiliges, weder eine Mutter noch eine Frau könnt ihr lieben.« Auf diese Weise brachten sie unsere Mitreisenden zum Schweigen, die daraufhin kein Wort mehr von sich gaben, aber noch heute denke ich, dass diese rohen Menschen sich nicht einen Augenblick lang geschämt und nichts bereut haben. Die Gesichtshaut solcher Leute, das hatte mein Vater immer gesagt, ist dick wie eine Schuhsohle.
Mutter musste zur Toilette. »Ich kann es nicht mehr aushalten«, sagte sie. Die beiden jungen Männer stützten sie und halfen ihr, an den Mitreisenden vorbeizukommen. Sie brachten sie in den Flur und hielten sie unter den Achseln fest. Meine Mutter griff mit beiden Händen nach ihrem Bauch, es war die intuitive Geste einer Schwangeren, um ihr Kind zu beschützen.
»Ich habe es noch nicht erwartet«, sagte sie, sich entschuldigend vor den beiden liebenswerten Männern, die uns zu Hilfe geeilt waren. »Es ist viel zu früh, viel zu früh«, sagte sie. »Alles wird gut«, sagte einer der beiden, drehte sich dann zu mir um und sagte: »Komm, Kleiner, nimm deine Sachen.«
Was hatten die beiden Wohlmeinenden mit uns vor? Ich nahm unsere Tasche von der Gepäckablage herunter und ging ihnen nach, drehte mich aber noch einmal um und streckte den derben Arbeitern die Zunge raus. Mutter hatte einen schweren und unsicheren Gang und hielt alle Augenblicke an, damit die Krämpfe weggingen. Vorsichtig bewegten wir uns von Waggon zu Waggon, und auf den kleinen Übergängen zwischen den Waggons hielten wir meine Mutter noch etwas fest und kamen so endlich zu dem Abteil, auf dem Reserviert für das Personal stand. Die Vorhänge waren zugezogen. Auf der Holzbank hatte sich der Kondukteur ausgestreckt, der flink hochsprang, als er die beiden jungen Männer sah. Wie ein Soldat, der auf Befehle wartet, stand er jetzt vor ihnen. »Dieses Abteil wird jetzt vorübergehend in eine Entbindungsanstalt umfunktioniert«, sagte der Kleinere der beiden, der auch zuvor den Arbeitern eine Lektion in Mitmenschlichkeit erteilt hatte.
Das Gesicht des Kondukteurs leuchtete; noch heute sehe ich seine heller gewordenen Augen vor mir, die beflissenen Gesten dieses hilfsbereiten Menschen. »Wir haben Glück, eine Hebamme ist im Zug!«, schrie er glücklich. »Ich gehe sie holen, guter Gott, die arme Frau kann das Kind doch einigermaßen anständig zur Welt bringen.«
Schnell war er weg, emsig rannte er den Waggonflur hinunter und der andere junge, etwas stillere Mann schloss das Toilettenräumchen auf, das nur den Diensthabenden vorbehalten war. Er half meiner Mutter hineinzugehen und wartete draußen vor der Tür auf sie. Es war schwer für mich, all das zu erfassen, es war auf eine Weise schön und unbegreiflich zugleich, dass diese Fremden unsere Retter wurden und uns einfach so halfen. Mutter kam aus dem Abort heraus, es ging ihr etwas besser, die Wehen hatten etwas nachgelassen, sie lächelte und sagte, dieser WC -Raum sei sauberer als alle anderen im Zug. Und dann bedankte sie sich mit einer zärtlich-milden Stimme bei den jungen Männern: »Ich weiß nicht, womit ich euren Schutz verdient habe«, sagte sie, »wie kann ich euch nur danken?«
Alles, was sie getan hatten, war voller Wohlwollen und Liebenswürdigkeit gewesen, es war mehr als erstaunlich, und selten ist mir so etwas in meinem späteren Leben noch einmal begegnet, selbst als ich bereits viele Reisen und Begegnungen in der ganzen Welt hinter mich gebracht hatte. Jetzt schreibe ich das erste Mal darüber, mit dieser Art des Guten bin ich im Laufe meines Lebens nicht gerade überschüttet worden, in meinen Büchern kommt es selten vor – auch wenn wir doch alle damit das eine oder andere Mal in Berührung gekommen sind. Und ich weiß auch nicht, warum ich nicht umhin konnte, hier das Gute zu beschreiben. Hatte ich etwa Angst, dass man mir nicht glauben würde? Oder habe ich das Böse als das Normale verbucht, sodass mir das Gute automatisch als das
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