Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Das Ausmaß dieser Erkenntnis ist unermesslich. Es gibt nicht viele solcher Menschen, nur noch einmal traf ich jemanden, der ihm ähnlich war, es war ein Handwerker, der einen kleinen Klempnerladen führte. Auch er war weise, sprach wie der Kondukteur von den Dingen, die unserem Verstand nicht zugänglich sind und sich ihm auch fortwährend entziehen. Diesen beiden ähnelt der Postbote aus Knut Hamsuns Roman Die Weiber am Brunnen . Im Gespräch mit dem Konsul spricht er vor sich hin, grummelt etwas über Gott, über das Leben im Jenseits dahin und sagt plötzlich so etwas Schönes wie: »Wir kommen auf diese Welt, um unser Schicksal zum Guten zu wenden.« Und hat dieser Gedanke nicht etwas mit der Geburt meines Bruders auf der Bahnstation Petrovići gemeinsam?
Als der Zug losfuhr, fühlte Mutter sich schon viel besser, gewann wieder etwas mehr Lebendigkeit zurück, befeuchtete sich die Lippen schluckweise mit Wasser, und ihre Müdigkeit schien sich im gleichen Augenblick auf Schwester Marija übertragen zu haben. Sie hatte sich auf die Holzbank gelegt, die Augen fielen ihr zu, und ein paar Mal ließ sie den Rosenkranz auf die Erde fallen, ich hob ihn immer wieder auf und legte ihn in ihre Hände. Ihre Finger waren steif, sie hatte keine Kraft mehr, den Rosenkranz zu beten, und starrte nur das Kruzifix über Mutters Kopf an. Das Kind war in ein Tuch gewickelt, Mutter nahm es zärtlich an die Brust und streichelte sein haarloses kleines Köpfchen; auf ihrem Gesicht zitterte ein mildes, glückssattes Lächeln. Wir waren privilegiert, hatten unser eigenes Abteil. Hätten wir denn irgendwo sonst so etwas erleben können, in einer fremden Gegend, bei fremden Menschen so viel Komfort und eine solche Zuwendung erfahren? Niemand beschwerte sich über das laute Weinen des Kindes, ganz im Gegenteil, die Gesichter strahlten um die Wette und alle feierten die Geburt des Kindes mit uns. Schließlich erfuhren wir auch, wer die beiden jungen Männer gewesen waren, die uns aus der Gesellschaft unserer rohen, kaltblütigen Mitreisenden befreit und in dieses Abteil gebracht hatten. Der Kondukteur bezeichnete sie als »Vertreter der Großherzigkeit«, aber in Wirklichkeit waren sie vom Staatssicherheitsdienst. Man sprach von ihnen mit Bewunderung, nannte sie »die Helden der neuen Zeit«, nur ein paar Tage zuvor hatten sie im gleichen Zug einen Verdächtigen erschossen. Alle waren mit diesem Mord einverstanden gewesen. »Da, auf dem Boden, wo jetzt Ihre Füße stehen, lag der Körper dieser Missgeburt«, sagte der Kondukteur. Dann ließ er sich ewig über eine Fliege aus, die lange auf dem offenen, blutigen Mund der Leiche Platz genommen habe.
Viele der Reisenden kamen an unsere Abteiltür, um die Frau aus der Nähe zu sehen, die im Zug ein Kind zur Welt gebracht hatte. Eine Frau, die keine Kinder bekommen konnte, setzte sich neben die Nonne und fing an zu weinen, erzählte von ihren vier missglückten Schwangerschaften und sagte, dass sie beim letzten Mal fast gestorben wäre. Als seien wir alle selbst noch tief abergläubisch, tröstete sie niemand von uns. Nach der Niederkunft ist jede Frau noch in Gefahr und es war alles andere als angenehm, diese Geschichte zu hören. Und es hatte ihr auch keiner von uns angeboten, Platz zu nehmen, das tat sie einfach selbst, brachte ungefragt ihre Angst in unser Abteil. Wir mochten sie nicht, und als sie das Baby in den Arm nehmen wollte, erlaubte Mutter es ihr nicht und zog das Kind näher zu sich. Waren wir unseren Ängsten verfallen oder war diese Frau wirklich so etwas wie die Botin des Todes, jemand, der uns in diesem Augenblick an der Nase herumführte? Ich weiß es nicht, sie sah ehrlich aus und schien nichts böse zu meinen, aber unsere Intuition ist manchmal der bessere Wegweiser durchs Leben, viel besser, als es der Verstand überhaupt sein kann. Niedergeschlagen ging sie von uns weg. Wir sprachen noch Jahre danach über sie, als mein Bruder gesund heranwuchs, wir bereuten es, eine Frau abgewiesen zu haben, die darunter litt, selbst niemals Mutter werden zu können.
Kaum war sie im anderen Waggon verschwunden, stand vor uns im Abteil ein Professor für Geschichte, er kam aus Trebinje, so stellte er sich vor, und sagte, dass er meinen Vater kenne. Er gratulierte zur gelungenen Geburt und konnte dabei den Blick nicht vom Kreuz über Mutters Kopf lösen. »Gut finde ich es nicht, dass das Kind unter diesem Kreuz zur Welt gekommen ist. Das ist ein katholisches Kreuz«, sagte er.
»Es ist
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