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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Mystische erscheint? Was ich in all den Jahren, in denen ich schreibe, verinnerlicht habe, ist, dass das Gute keine Erben hat, das Böse aber umso mehr. Das mag auch eine Antwort auf meine grundsätzlichen Zweifel sein. Doch ich möchte den Faden nicht verlieren und werde mich wieder den beiden jungen Männern widmen, die meine Mutter ins Abteil begleitet haben und ihr den Schlüssel zum Abort daließen. In der Zwischenzeit war auch der Kondukteur zurückgekehrt, zusammen mit einer älteren Nonne in schwarz-weißer Ordinationskleidung. »Das ist unsere Dauerreisende, Schwester Marija, Franziskanerin aus Cetinje«, sagte der Kondukteur.
    Die jungen Männer begrüßten sie lebhaft und verabschiedeten sich dann. Die Schwester strich meiner Mutter liebevoll über das Gesicht, dann machte sie die Knöpfe ihrer Bluse auf und löste die Klammer, mit der ihre Weste befestigt war. Sie machte Mutters breiten Rockgürtel auf und zog ihn ein Stückchen nach unten. Dann schob sie die Bluse nach oben und entblößte einen glatten Bauch, fing an, ihn zu massieren und sanft zu kneten, und dann beugte sie sich vor und sprach auf den Bauchnabel ein: »He du! Willst du rauskommen oder warten, bis wir im Krankenhaus sind?«
    Ich lachte über diesen zauberischen Kommunikationsversuch der Franziskanerin und meine Mutter lächelte sanft. Schwester Marija sah mich streng an und sagte: »Lustig ist das nicht, du! Das Kind im Bauch hört und versteht alles, mein Lieber. Es hat mir auch meine Frage schon beantwortet, nur höre ich nicht mehr so gut.«
    Wieder überströmte Schweiß die Mutter, ihre Zähne fingen an zu klappern. Ich sagte, dass unsere Handtücher und Laken in der Tasche seien. Die Schwester befeuchtete ein kleines Handtuch mit Wasser aus unserer Flasche und fing an, den Schweiß von Mutters Stirn zu wischen.
    »Keine Angst, meine Gute«, sagte sie leise, dicht an Mutters Mund gebeugt. »Du bist in guten Händen. Keiner von uns ist gänzlich allein oder verlassen. Es ist immer jemand mit uns, jemand beschützt uns, alle Zeit, immer, bei allem, was wir tun.«
    Sie legte Mutter auf die Bank, aus ihrer Handtasche nahm sie ein kleines Kreuz heraus und befestigte es an dem Haken über Mutters Kopf. Dann wandte sie sich mir zu und sah mich lange und forschend an.
    »Was denkst du über Gott?«, fragte sie.
    »Weiß nicht«, sagte ich.
    »Er weiß es«, sagte sie, »Gott weiß genau, was du denkst. Jetzt geh bitte raus, das hier solltest du dir nicht angucken.«
    Sie schloss die Abteiltür und zog die Vorhänge hinter sich zu. Ich stand auf dem Flur vor dem Abteil, legte mein Ohr an die Tür und versuchte, etwas zu hören, aber die Luft war erfüllt vom Rattern der Räder, das Aneinanderklackern der Waggons tat das Seine dazu. Das Pfeifen der Lokomotive hörte man jedes Mal, wenn der Zug auf einen neuen Schienenabschnitt fuhr. Am Rande der Strecke sah man überall Spuren des Feuers; schwarze Steine, verbranntes Gras und seltene Bäume, die jetzt skelettartig in die Höhe ragten.
    Der Zug fuhr in die Bahnstation Petrovići ein, schon seit dem letzten Abbiegen war er langsamer geworden; die Lokomotive hielt direkt unter der Wassertränke an. Als der Zug zum Stillstand kam, entstand eine zum Zerschneiden hörbare, tiefe Stille und eine Lähmung lag über allem, etwas, das alle Stimmen schluckte. Noch immer zischte der Dampf aus der Lokomotive heraus und man hörte jetzt die Stimme des Kondukteurs, er ließ uns wissen, dass der Zug hier mindestens fünfzehn Minuten halten würde, um die Ankunft des Güterzuges aus N. abzuwarten. Wohin auch immer ich gereist bin, regelmäßig sprang ich bei jeder Station hinaus, noch bevor der Zug hielt, jetzt aber blieb ich vor der Abteiltür bei meiner Mutter stehen und wartete ihre Niederkunft ab. Ich legte meine Stirn auf die Fensterscheibe und es gelang mir, einen Blick auf das Innere des Abteils zu erhaschen; der Vorhang war etwas verrutscht und ich konnte einen kurzen Moment lang erkennen, was drinnen vor sich ging. Natürlich tat ich das in aller Heimlichkeit und hatte Angst, dass die Schwester mich dabei erwischen und vom Flur verscheuchen würde. Sie stand mit dem Rücken zu mir und war vollauf mit der werdenden Mutter beschäftigt. Sie hielt ihr unsere bauchige Flasche an den Mund und trieb sie an, da hineinzublasen. Wie eine Befehlshaberin hob sie streng ihre Stimme an und sagte zu ihr: »Los, blas in die Flasche, blas sie wie einen Ballon voll, so als müsste sie danach fliegen!«
    Ich sah auf

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