Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
das angestrengte Gesicht meiner Mutter, ihre verdrehten Augen und aufgeplusterten Wangen; sie pustete derart vehement in die Flasche hinein, dass ich dachte, sie werde größer, wechsele ihre Form, sehe aus wie ein Ei und dehne sich bis zu jenem Punkt aus, an dem sie irgendwann platzen musste. Und dann, mitten in diesem von Stille umscharrten Warten, hörte man plötzlich Mutters gellenden Schrei und ich sah, wie die Flasche in Tausende kleine Kristalle auseinanderbrach. Flimmernd bebte diese Explosion in mir weiter, illuminierte alles, und mir schien, ein silbern-goldener Regen falle nun auf meine Mutter und die Nonne herab. Aus den kleinen Kristallen schossen Luftwirbel heraus, aus denen in nur einer Sekunde fliegende kleine Kränze entstanden und eine Aureole nach der anderen über dem Kopf der Gebärenden hinterließen. Mitten in diesem Geburtsfeuerwerk hörte man endlich auch das Neugeborene schreien. In diesem Augenblick öffnete ich die Abteiltür und sah als Erstes Schwester Marija, sie hielt das Kind im Arm, es war schrumpelig und blutig und an seinem Bauch hing noch die Nabelschnur; ein Gefühl des Ekels kam bei diesem Anblick in mir hoch, ich war bestürzt und dachte an das Allerschlimmste – dass eine Missgeburt zur Welt gekommen war. Mutter war mit ihren Kräften am Ende, ihr Haar war ganz nass, und auch vom Gesicht der Nonne rann der Schweiß nur so herunter, sie atmete schwer und fuhr immer wieder mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. »Du hast einen Bruder bekommen«, sagte Schwester Marija. »Das Kindlein ist gesund und schön«, sagte sie und drehte sich dann in Richtung des Kreuzes über Mutters Kopf, dankbar offenbar, dass Jesus, gekrümmt und ans Kreuz genagelt, ihr die Kraft und das Wissen geschenkt hatte, einer Seele zum Leben auf dieser Welt zu verhelfen.
Schwester Marija legte das Kind sachte in den Arm meiner Mutter; Schwester Marijas Hände zitterten, sie formte eine Faust, um sich zu beruhigen und das Zittern unter Kontrolle zu bekommen, dann zog sie die blutigen Laken ab, auf denen Mutter gelegen hatte, und verstaute sie in ihrer Tasche. Auf dem Fenstersims, der ihr als Ablage diente, stand unsere bauchige Flasche und neben ihr lag Mutters Kamm. Nur in meiner Vorstellung war die Flasche zersprungen. Jetzt nahm die Nonne sie in die Hand, schob sie mir zu und sagte: »Los, ab mit dir zum Wasserhahn, füll die Flasche auf!«
Die bauchige Flasche, eine der schönsten aus Mutters Flaschensammlung, stand seit jeher an einem besonderen Platz im Regal, und Großvater füllte in ihr nur dann Wein ab, wenn ein vornehmer und angesehener Gast bei uns vorbeikam. Jetzt sah diese Flasche in meinen Händen wie ein kostbarer Gegenstand aus, wie der teuerste Kristall der Welt, ich umarmte sie, liebte sie wie ein lebendiges Wesen; am Tag von Mutters Niederkunft hatte sie eine unendliche Bedeutung bekommen. Und auf dem Weg zum Wasserhahn, als ich den Bahnsteig an der Station Petrovići hinuntertrabte, erzählte ich lautstark allen Mitreisenden, dass meine Mutter einen Jungen zur Welt gebracht hatte. Das Weinen des Neugeborenen zersetzte die Stille und der Lokführer erkor es sofort zur Sirene dieser Zugfahrt; es waren fröhliche und kurze Pfiffe zu hören, jeder erlebte die Geburt als ein Zeichen der Freude. Die Bahnangestellten und viele Reisende, ob an den Fenstern oder am Gleis neben den Waggons, waren glücklich, obwohl sie über die Mutter gar nichts wussten, aber hin und wieder ist auch das Schöne ansteckend, genauso wie Wut, Hass oder Neid. Viele ließen Mutter von ihrer Anteilnahme wissen und man hörte Ausrufe wie »Was für eine starke Frau!«, »Gott behüte sie!«, »Ein Glück, dass ihm nichts fehlt«; aber auch die eine oder andere geschmacklose Bemerkung war zu hören, so etwas wie »Von wem ist es denn überhaupt?«, »Hat’s denn eigentlich ’nen Vater?« usw.
Der Kondukteur schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, allem eine noch größere Bedeutung zu geben, und sagte so etwas wie »Ein Reisender ist zur Welt gekommen!« oder »Sein Leben begann auf Rädern, der wird’s weit bringen!«; der gute Mann hatte, das muss man ihm zugestehen, nichts als die allerbesten Absichten, als er davon sprach, Gott habe das Wesen des Kleinen schon zu Beginn in die richtige Bahn gelenkt. Kaum einer hatte erwartet, dass der Kondukteur die Geburt derart geistreich verorten würde. Für ihn war es klar, dass Gott uns alle zur Welt gebracht hatte und dass »sein Same unser aller Leben ist«.
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