Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
paar offene Rechnungen ihrer Kundschaft laufen hatte, vor allem aber, dass sie keine Unterscheidungen zwischen Einheimischen und Zugezogenen gemacht hatte. Mutter fing vorübergehend an, in den Häusern der Leute zu arbeiten, bis ihr ein wohlhabender Witwer ein übertrieben hohes Trinkgeld und die Garderobe seiner verstorbenen Frau anbot, damit sie mit ihm schlief. Meine Mutter war von diesem Erlebnis so erschüttert, dass sie nie wieder den Versuch unternahm, als Haushälterin zu arbeiten. Es gelang ihr damals, vom Roten Kreuz als Freiwillige genommen zu werden, sie war fleißig und beliebt, man gab ihr als Gegenleistung für ihre Arbeit Kleidung, die als Teil internationaler Hilfslieferungen eintraf. Sie war nicht mehr abhängig von der Gunst eines einzelnen vermögenden Menschen, sie durfte sich aus den Kleiderbergen einfach etwas aussuchen, und so kam es dazu, dass wir eine Zeit lang wie eine amerikanische Farmerfamilie gekleidet waren. Vater und ich trugen karierte Hemden, spitze Schuhe, Lederhosen oder Jeansoveralls mit breiten Trägern. Mutter hatte Kleider in schrillen Farben und Pelzstiefelchen, sogar mein kleiner Bruder hatte als Baby eine Baumwollmütze mit einer Bommel bekommen, und ich wurde öfter mal von Stadthooligans wegen meiner Cowboyhüte überfallen. Ich hatte auch ein paar Reiterstiefel.
Vater fühlte sich manchmal schuldig, es plagte ihn, dass er seine Familie in diese Stadt gebracht hatte, er bereute es, dass wir nicht nach Cetinje gezogen waren, wo er zwei, drei gute und einflussreiche Freunde hatte. Mutter konnte es nicht verschmerzen, dass wir unserer Gegend und dem fruchtbaren Land den Rücken gekehrt hatten, das milde Klima zugunsten eisiger Schneefälle und bitterkalter Winter getauscht hatten. Das uns einst vertraute milde Klima wird im regionalen Lexikon mit dem weitgehend unbekannten Wort umnina beschrieben, mild nannte man es vor allem deshalb, weil es dort nie schneite. Und ich benutze dieses Wort im Gedenken an meine Mutter, Melancholie überfällt mich dabei, man möge mir verzeihen. Mutter schlich vorsichtig um Vater herum, sie wollte ihm vorschlagen, dass wir wieder nach Hause zurückkehren. »Hier blühen doch keine Rosen für uns, so wiegt jedes Unglück doppelt so schwer wie dort, wo man uns kennt«, sagte sie dann leise, wurde nicht müde, dabei zu betonen, dass wir hier in der Fremde waren, in der Stadt könne man es ohne einen Hof mit Garten nicht aushalten. Es fehlte ihr ein Stückchen Erde für Salat, Schnittlauch und ein bisschen anderes Gemüse. Vater lehnte sich gegen eine Rückkehr gänzlich auf, er wollte nicht einmal mehr zu Besuch in unsere Gegend gehen, beharrte darauf, dass die fremdeste Fremde besser sei als die nächste Verwandtschaft.
Auch ich verstieg mich in meinen Tagträumen darauf, von einer Flucht aus dieser Stadt zu träumen, mir war bewusst, dass mir im Falle eines Abschieds nichts fehlen und mich nichts traurig machen würde, mir kam es sogar so vor, als könnte ich die Trennung von meinen Eltern verkraften, denn etwas anderes band mich nicht an diesen Ort, den ich nicht ein einziges Mal als meinen wirklichen Lebensort erlebte, wie das die meisten Menschen einfach immer von sich behaupten, wenn sie irgendein bedeutungsloses Provinzstädtchen als »den schönsten Ort der Welt« in himmlische Höhen heben. Wenn mich irgendetwas an dieses Städtchen band, so war das die Abneigung, ein tiefes Unbehagen, das in meinen Eingeweiden feststeckte, als wiederkehrendes Gefühl, sobald die Rede auf N. kam. Und wenn ich später hier durchreiste oder nur kurze Zeit hier verbrachte, kam dieses alte Gefühl in mir hoch, es hatte mich ganz in seiner Gewalt und erstickte alle Lebensenergien in mir. Einmal war ich auf der Durchreise und hielt kaum die zehn Minuten aus, die der Zug auf dem Gleis stand. Aber es ist natürlich nicht gerecht, sich so über eine ganze Gegend zu äußern, überall gibt es genug glückliche Menschen und Leute, die mit Freude ihr Leben gestalten, zumal, wenn sie unter sich und Teil einer großen Familie sind, sich gut verstehen und sich aus dieser Zufriedenheit heraus den Geschehnissen in der Welt stellen. Wenn ich verloren und unglücklich war, dann war es natürlich nicht die Schuld jener Stadt, in der ich lebte, es ist sogar sicher, dass sie gar nicht so war, wie ich sie zu sehen glaubte. Auch ich habe eine Heimatgegend, so sehr ich sie auch ablehne; L. ist mein Geburtsort, diese fruchtbare Region gehört zu mir und zu meinen Ursprüngen,
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