Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
vor ihr saß, schwieg sie und gab dem Neugeborenem die Brust, sie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass ich ihrer Hebamme das Geschenk gemacht hatte und dass alles, was ich ihr erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. In einem Augenblick hob sie plötzlich den Kopf und sah mich freundlich und liebevoll an, und sie weinte. »Du bist so gut und so großzügig«, sagte sie. »Ich habe Angst um dich, du wirst es schlecht haben im Leben.«
Diese Worte setzten mir zu und plagten mich über einen langen Zeitraum hinweg, aber ich konnte mich nicht entschließen, ehrlich zu sein und zu gestehen, dass ich sie betrogen und hintergangen hatte. Es gelang mir auch dann nicht, als wir später über die Armut lachen konnten, viel Zeit vergangen war und das Unglück sich langsam verflüchtigt hatte; hätte ich ihr alles gestanden, hätte sie sehen können, wie sehr sie sich in mir und meinem Edelmut getäuscht hatte. Aber wer weiß, vielleicht hätte sie die Wahrheit einfach nicht geglaubt oder es wäre ihr nicht recht gewesen, wenn sie das Bild hätte aufgeben müssen, das sie von mir hatte, möglicherweise wäre ihr die wahre Version der Geschichte wie eine Erfindung vorgekommen, die sie als Witz abgetan hätte. Ich wollte später nicht mehr an Mutters Gefühlen rühren, aber unternahm doch mehrmals den erfolglosen Anlauf, ihr alles zu beichten. Es ist ein Glück, dass ich sie nach meinem Abschied nur noch selten gesehen habe, es geschah nur in den Abständen, die sich meist auf einen Fünf-, Sechs-Jahres-Rhythmus einpendelten, und dabei entfremdete ich mich von ihr; wir beide wussten später immer nur wenig voneinander.
Mutter fühlte sich unwohl in der neuen Stadt und verfiel in befremdliche und schwer nachvollziehbare Vorurteile, dann gab sie Dinge von sich wie jene Überzeugung, dass man die Vornehmheit einer Stadt am besten an den muslimischen Häusern und Familien erkennen könne, und ihr kam es vor, dass selbst die Muslime in dieser montenegrinischen Stadt an Eleganz verloren hatten, es hatte offenbar keinerlei Bedeutung, dass sie die Nachfahren berühmter Beys und stolzer Familien waren. Wie sich diese Vorurteile überhaupt in meiner Mutter bilden konnten, war mir nie klar gewesen, aber viele Male habe ich übermäßiges Lob aus ihrem Mund gehört, dann sprach sie von ordentlichen, sauberen und aufopfernden Türkenfrauen (das Wort aufopfernd benutzte sie oft und meinte damit jene fleißigen, nimmermüden Frauen, ohne die ein Haus nichts wäre), von denen sie selbst nicht nur das Kochen gelernt hatte, sondern auch die Kunst des Kaffeetrinkens, bei der es nicht nur darum ging, sich den kleinen Genüssen des Lebens zu öffnen, ein, zwei Mal am Tschibuk zu ziehen, sondern auch darüber nachzudenken, was die Welt da draußen einem für Fallen stellen konnte; Männer waren auch ein wichtiges Thema, ebenso das Gute und das Böse. Muslimische Frauen haben meiner Mutter beigebracht, wie man Strudelteig und Pita machte, sodass ich bis heute, wenn ich mich in Gegenden wiederfinde, in denen Muslime leben, und ich in einer Schenke irgendwo etwas zu mir nehme, an die Geschmackserlebnisse aus der Kindheit erinnere. Die Schwermut ist dann sofort zur Stelle und mit ihr die Gestalt meiner Mutter, die mich immer in solchen Augenblicken begleitet. Und so kam es eines Tages dazu, dass ich einmal in einem Burekladen einfach ein Gespräch mit ihr anfing, was von außen natürlich wie ein bloßes Selbstgespräch aussah und mir verstörte Blicke meiner Mitmenschen einbrachte.
Ich erinnere mich daran, ich war im Alter von neun Jahren, dass eine orthodoxe Frau aus L. einen muslimischen Mann heiratete und daraufhin alle Eltern ihre Kinder aufforderten, sich in Zukunft die Nase zuzuhalten, wenn sie ihr Weg einmal am Haus der Braut vorbeiführen sollte, das machten aber nicht nur die Kinder, auch die erwachsenen Frauen taten es. Meine Eltern untersagten mir, so etwas zu tun, und prompt wurde über uns geredet, aber wir wollten nicht zu den Ewiggestrigen zählen und die einen gegen die anderen ausspielen. Dies war unsere gemeinsame Welt, eine Welt mit einer gemeinsamen Sprache, die uns verband, die Animositäten waren uns vererbt worden, auf dieser Grundlage war es leichter, uns zu rügen, aber eines müssen wir uns alle auf die gleiche Art merken – wir sind alle gleich, sogar unsere Familiennamen zeigen uns das. Die Nachnamen sind sogar oft identisch, die einzigen Unterschiede machen manchmal die Vornamen aus, aber kann das als Grund ausreichen,
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