Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
unser christliches Kreuz«, sagte Schwester Marija. »Warum zerbrechen Sie sich Ihren Kopf, mein Herr? Sie sind doch nicht der Vater des Kindes.«
»Nein, aber ich kenne seinen Vater«, sagte der Professor. »Das wäre ihm überhaupt nicht recht, wenn er das sehen würde. Wir haben unser eigenes orthodoxes Kreuz, Schwester.«
»Die Frau hat unser Kreuz nicht gestört«, sagte die Franziskanerin.
»Die Frau interessiert mich nicht, ich spreche hier im Namen des Kindsvaters«, sagte er. »Er würde das fremde Kreuz zum Fenster hinauswerfen, weil er ein eigenes hat.«
»Hier ist seine Ehefrau, guter Mann. Wenn jemand das Recht hat, in seinem Namen zu sprechen, dann doch diese Frau und nicht etwa Sie«, sagte die Nonne.
»Unter diesem Kreuz sind große Verbrechen begangen worden, das wissen Sie so genau wie ich, meine verehrte Kirchendienerin! Nehmen Sie es herunter und verstauen Sie es in Ihrer Tasche. Wenn Sie das nicht machen, werfe ich es eigenhändig zum Fenster hinaus«, schrie der Professor mit einer zittrigen Stimme und sein Gesicht wirkte dabei völlig entstellt.
Schwester Marija gab nach, sie nahm das Kreuz von der Wand und steckte es in ihre Tasche. Der Professor ging weg. Wir blieben betäubt von seiner Attacke zurück, verwundert über ein solches Ausmaß an Hysterie, Schwester Marija war viel zu erfahren, um sich von so jemandem in einen Streit verwickeln zu lassen. Mutter und ich hingegen verstanden überhaupt nicht, worum es eigentlich ging. Diese Art von Bitterkeit kannten wir nicht. In unserer Familie gab es solche Diskussionen nicht. Meine Urgroßmutter Petruša starb unter einem solchen Kreuz, es hing seit jeher über ihrem Bett. Ich weiß nicht, unter welchen anderen Symbolen sonst meine Vorfahren starben und geboren wurden. Und warum sollte mir das auch so wichtig sein? Hätte ich damals über meine heutige Erfahrung verfügt, ich hätte Schwester Marija verteidigt. Mir sind später engstirnige Menschen begegnet, die genauso besorgniserregend wie der Professor waren. Ich glaube, ich bin ihnen so begegnet, wie Schwester Marija dem unbekannten Professor begegnet ist – ruhig und gesammelt. Es gibt immer jemanden, der einen Schatten auf das werfen möchte, was wir selbst unsere glücklichen Tage nennen.
55
Wenn man in seiner eigenen Stadt niemandem sein Leid klagen kann, sagte meine Mutter, dann ist diese der denkbar schlechteste Ort, an dem man sein Leben verbringen kann. Gleich nach unserem Umzug nach N. fing unsere Pechsträhne an, wir hatten keine Freunde und es begegnete uns auch niemand mit Wohlwollen. Wir hätten alles leichter ertragen können, wenn wir etwas wohlhabender gewesen wären oder wenigstens in jenem Maße arm, in dem wir es als Besitzer unseres kleinen Ladens waren. Jetzt waren wir an einem Punkt angekommen, an dem wir uns nur aufgeben konnten, es schien die einzige Wahl zu sein, die wir hatten. Vater bekam gesundheitliche Probleme, erkältete sich schnell, ständig hatte er hohes Fieber, hustete mehr und mehr, hörte mit dem Rauchen auf und wurde wieder rückfällig; beide rauchten sie die billigste Zigarettenmarke namens Drava. Aber die wichtigste Veränderung lag darin, dass Vater und Mutter einander immer mehr zur Stütze wurden. Sobald Mutter anfing darüber zu klagen, dass uns diese Stadt nur Kummer eingebracht hatte, versuchte Vater, sie sanftmütig und leise wieder zu beruhigen und ihre Sorgen zu zerstreuen, er übernahm sogar die überraschende Rolle des Optimisten, der uns eine Vision von besseren Zeiten vor Augen führte. Das war Vaters große Wandlung. Das hatte sich niemand von uns vorher vorstellen können, dass ausgerechnet er, der sich früher um nichts gekümmert hatte, nun Mutter trösten würde, die immer so stark und guter Dinge gewesen war. Wenn sie sagte, das zweite Kind sei nicht nötig gewesen, erwiderte er streng, dass sie sich versündige.
Soweit es in unserer Armut möglich war, fand Mutter sich mit dem minimalen Haushaltsbudget zurecht, auf den Markt ging sie erst bei Schließung, kurz bevor alle Stände abgebaut wurden, dann bekam sie alles für wenig Geld, und manchmal schreckte sie nicht davor zurück, auf dem Markplatz auch etwas vom Weggeworfenen mitzunehmen. Es traf sie sehr, dass wir nicht wie die Einheimischen in den Geschäften oder beim Gemüsehändler etwas anschreiben lassen konnten, und wir hatten auch niemanden, bei dem wir uns etwas Geld hätten borgen können. Sie war stolz darauf, dass sie damals in unserem Laden immer ein
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