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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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uns selbst untereinander zu Feinden zu machen? So jedenfalls ging mein Vater damit um. Und ich hörte ihm jedes Mal aufmerksam zu. Heute glaube ich nachvollziehen zu können, dass ich das auch ohne seine Monologe gefühlt habe, dass ich mit einem eigenen inneren Gespür all das verstand, was ich später eingehend studiert habe, vor allem, dass eine Nation im Grunde ein Mythos ist, dass sie eine Versuchung darstellt, in Kategorien von Reinheit und Rasse zu denken, es aber letzten Endes keine Trennungen, lediglich unsere vielfach sich überlappenden Leben gibt. Nur deshalb konnten ja auch wir überleben und dort ankommen, wo wir uns nun befanden, sonst wäre jeder von uns an jeder beliebigen Stelle des Lebens gescheitert. Ich weiß nicht, wer es war, der einmal davon gesprochen hat, dass unsere Suche nach der Reinheit der Wurzeln eine »Vernebelung der Dinge« darstellt.
    Dieses Kapitel hat mir Mühe gemacht, ich habe es mehrfach gekürzt, mehrmals habe ich Mutters Ideen über Muslime hin- und hergeschoben und darüber nachgedacht, ob ich sie überhaupt niederschreiben sollte – weil ich Angst hatte, damit in irgendwelche nationalistischen Fallen und Raster zu tappen, aber dann bin ich in einer Zeitschrift auf eine Reisenotiz des britischen Archäologen und Schriftstellers Arthur J. Evans vom Juni 1875 gestoßen, in der er die Ansichten meiner Mutter unterstreicht. Er schreibt in diesem Text unter anderem darüber, dass die Muslime aus Bosnien-Herzegowina Manieren haben, eine angeborene Eleganz, die in ihren östlichen Vorfahren und Traditionen begründet liegt, die sie beim Übertritt zum Islam durchdrungen haben; er schulde ihnen nur seinen Respekt; die Christen hingegen, die in der Mehrheit waren, zeigten sich ihm von einer erschlagend unhöflichen, undankbaren Seite, ihnen habe etwas Kleinliches und Kleingeistiges angehaftet.
    Dass sich die Eindrücke dieses Reiseschriftstellers mit der Wahrnehmung meiner Mutter deckten, war für mich (trotz meiner vorhandenen Abwehr) Grund genug, alles so stehen zu lassen, wie ich es zuerst geschrieben hatte; es ist mir wichtig, auch meinen Zweifeln Raum zu geben und Einblick in die so aufkommenden Ungenügsamkeiten zu geben.
    Noch war ich in N. wohnhaft, da starb meine zweite Großmutter, meine Oma Vukava; keiner von uns war beim Begräbnis der alten Frau, nicht einmal mein Vater, obwohl der Anstand es geboten hätte, der eigenen Mutter die letzte Ehre zu erweisen. Ich bin mir nicht sicher, ob meine hässliche Tante Vesela noch am Leben ist; damals hatte es für mich etwas Kurzweiliges, diese »vollkommene Hässlichkeit« zu betrachten, heute würde ich nicht mehr genießerisch auf sie starren können, im Laufe meines Lebens habe ich noch ganz andere geistige und physische Hässlichkeiten und Abgründe zu Gesicht bekommen. Ich versteinere nun nicht mehr innerlich, das Schreckliche ist aber dennoch ungenießbar geworden. In meiner Erfahrungswelt wimmelt es nur noch so von Ungeheuern, die Begegnungen mit ihnen stellten schon seit jeher ein Mysterium für mich dar. So viele Male habe ich Menschen zugehört, die mir ihre Seelen geöffnet und alles mit der Bitte über sich erzählt haben, doch auch den gröbsten Unsinn ernst zu nehmen. Auch wenn mir die Sprache, in der sich diese Menschen mir genähert haben, fremd geblieben ist, war mir klar, dass wir alle, der eine oder andere weniger stotternd, lediglich von unseren Leiden erzählen wollen, und all die armen verlorenen Seelen sehnen sich nur danach, an einem Lüftchen Ewigkeit teilzuhaben; dieses aber kann ihnen nur jemand geben, der mit ihnen leidet. Wie verlockend diese Geschichten auch alle gewesen sind, über diese Menschen, die genau wussten, wie empfänglich ich für sie war, habe ich vieles geschrieben, ein paar beeindruckende »Irre« waren darunter, das musste sein. Dieses Wort versehe ich mit schmückenden Anführungszeichen, weil es unter ihnen auch ein paar meiner Verwandten gab, ihnen habe ich nicht den literarischen Platz geben können, der ihnen gebührt hätte, ich hatte Angst vor Konflikten und Streitereien mit der Verwandtschaft, ich zog es vor, nur in Andeutungen zu arbeiten, das Feuer nicht zu groß werden zu lassen, leise zu sein, ohne Attacken und Rachegefühle, ich wollte nie einen anderen symbolisch im Schreiben töten. In meiner Familie gibt es viele Tonleitern, die ins Böse ausschwingen, aber es ist besser, dass ich mich nicht an ihnen abgearbeitet habe. »Wenn man einen Bienenstock stehlen will, wird

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